Die Geliebte des Normannen
abwandte, vor allem jetzt und auf eine derart auffällige Weise, dann musste Stephen akzeptieren, dass ihr Loyalität nun ihm gehörte.
Aber sie brachte es nicht fertig. Ihr ganzes Wesen sträubte sich dagegen. Sie hatte sich keines Verrats schuldig gemacht, sie war ihrem Ehemann die beste Gemahlin, die sie sein konnte, und sie wollte die Bande zu ihrer Familie nicht zerschneiden, weder jetzt noch in Zukunft. Sie würde es nicht tun.
Außerdem überbrachte Edward sicherlich Neuigkeiten von ihrer Familie. Nach der Schlacht von Carlisle und so viel neu entflammter Feindseligkeit zwischen ihrer und Stephens Familie, von den praktisch täglich vorkommenden sporadischen Übergriffen ganz zu schweigen, hatte es zwischen ihr und Schottland keine Verbindung mehr gegeben.
»Ihr wollt nicht mit Edward sprechen?«, fragte Stephen mit zusammengekniffenen Augen.
Umsonst kämpfte Mary gegen ihre Tränen an. Eine dunkle Ahnung überkam sie, dass sie diesen Tag bald verwünschen würde.
»Doch, ich muss mit ihm reden«, sagte sie entschlossen und mit dennoch gebrochener Stimme.
Stephens Lächeln verschwand.
»Nach Euch, Madame Gemahlin«, meinte er mit einer gespielt gefälligen Geste.
Sein Ton war spöttisch, bitter. Mary blickte ihm in die Augen.
»Glaubt nicht das Schlimmste. Bitte. Mylord, ich werde Euch nicht hintergehen.«
»Das werden wir ja sehen, nicht wahr?«, erwiderte er kühl.
Seine Bemerkung verärgerte Mary. Wie schnell er mit falschen Anschuldigungen bei der Hand war! Sie ignorierte ihn und eilte ihm voraus in den Saal.
Er war leer, ein seltenes Vorkommnis. Bis auf ihren Bruder natürlich, der zusammen mit Fergus, einem der nächsten Verwandten ihres Vaters, an dem langen Tisch saß. Trotz ihrer schwierigen Lage spürte Mary Freude in sich aufsteigen. Wie sehr liebte sie Edward, und wie lange hatte sie ihn nicht mehr gesehen! Mary schüttelte die Hand ihres Gemahls ab und warf sich ihrem ältesten Bruder in die Arme.
Sie weinte ein wenig an seiner Brust. Edward liebte sie. Schon seit sie laufen gelernt hatte, war er immer da gewesen, um sie vor den Folgen ihrer mutwilligen Streiche zu bewahren, und später, um ihren Mangel an Beherrschtheit zu rechtfertigen. Er war nicht nur ihr älterer Bruder und so etwas wie ein Held für sie, sondern er war ihr lieber, lieber Freund, den sie sehr vermisst hatte und verzweifelt brauchte. Schließlich überließ Edward sie Fergus für eine ungestüme Umarmung. Als der große, rothaarige Mann sie wieder losließ, musste sie sich noch einmal die Tränen abwischen. Irgendwie war sie erfreut und traurig gleichzeitig.
»Wie du glühst, kleine Schwester«, sagte Edward leise und taxierte sie von oben bis unten. Wenn er lächelte, war er einer der schönsten Männer, die sie kannte. Seine Zähne waren blendend weiß, seine Haut sonnengebräunt, die Haare so dunkelbraun, dass sie einem manchmal schwarz vorkamen. »Die Ehe muss dir guttun.«
Mary musste beinahe lachen. Noch vor ein paar Tagen hätte sie dem voll zugestimmt. Dann merkte sie, dass Stephen hinter ihr stand und schweigend zuhörte und beobachtete.
»Ich bereue es nicht, verheiratet zu sein.« Das war die Wahrheit. Sie hoffte, dass Stephen das begriff.
Er warf ihr einen entschieden feindseligen Blick zu. Fast wäre Mary vor ihm zurückgewichen. Mit einem spöttischen Grinsen bemerkte er: »Viel Spaß mit Euren Besuchern, Madame. Da Ihr zweifellos ein wenig mit ihnen allein sein wollt, werde ich mich um meine Angelegenheiten kümmern.«
Er ging. Mary vergaß ihren Bruder und rannte ihm nach.
»Wartet, Mylord!« Sie holte ihn ein. »Stephen, was machst du? Warum willst du mich mit Ed allein lassen? Warum bleibst du nicht bei uns?«, fragte sie leise.
»Vertraust du dir nicht, Mary?«
Sie zuckte zusammen. »Willst du mich prüfen?«
»Ich überlasse dich einfach nur dir selbst«, sagte er und schritt kraftvoll an ihr vorüber. Die schwere Eingangstür des Wohnturms fiel hinter ihm ins Schloss.
Mary bebte. Lieber Gott, Stephen vertraute ihr absolut nicht, und hätte er ihr nicht gerade gesagt, warum er sie allein ließ, sie hätte ihn für verrückt gehalten. Aber er war nicht verrückt.
Denn anstatt sich mit ihr und ihrem Bruder zusammenzusetzen und ihr keine Gelegenheit für jeglichen Verrat zu geben, gestand er ihr kalt und vorsätzlich zu, Ränke gegen ihn zu schmieden, falls sie es wollte.
»Er scheint sich über meinen Besuch nicht sehr zu freuen«, seufzte Edward. »Als wir uns umarmten, schaute er
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