Die Geliebte des Normannen
verschlug ihr die Sprache.
Sie würde eine Heldin sein, eine Retterin, die Retterin, und sich dann endlich auch Stephen gegenüber als loyal erweisen.
Der Gedanke, endlich und vollständig ihre Unschuld darlegen zu können, faszinierte Mary so sehr, dass sie kaum wahrnahm, wie die Gräfin sie mit einem leichten Klopfen auf die Schulter aufforderte, ihre Aufgabe in Angriff zu nehmen.
Mary hatte den perfekten Vorwand erhalten, den Turm zu verlassen. Sie eilte in den Burghof, wo Bedienstete hin und her hasteten und riesige Fässer mit Trinkwasser sowie Säcke mit Getreide und getrockneten Lebensmitteln hereinschleppten. Andere schafften Fässer voll Öl an die Mauern, das im Falle einer Erstürmung erhitzt und von der Brustwehr aus auf die Angreifer ausgeschüttet werden würde.
Niemand achtete auf Mary. Wahrscheinlich hätte sie einfach aus dem Hof hinaus und über die Zugbrücke spazieren können, die wegen des steten Flusses von Fußgängern und Fahrzeugen heruntergelassen worden war. Aber es stand zu viel für sie auf dem Spiel, als dass sie riskieren konnte, erkannt und aufgehalten zu werden.
Mary eilte an die Rückseite des Wohnturms, wo sich die Küche und die Vorratskammern befanden und wo für gewöhnlich einige junge Burschen ihrer Körpergröße arbeiteten.
Einer von ihnen brachte gerade einen Sack Mehl in die Küche. Mary nahm ihn beiseite, gab ihm ein Geldstück, was ihn überaus erfreute, und einen Umhang, um sich zu bedecken. Er versicherte ihr, es werde kein Problem für ihn sein, sich andere Sachen zum Anziehen zu besorgen. Mary nahm alles, was er trug, an sich, seine Holzschuhe, die Hose, die raue Wolltunika, seinen aus Schnüren geflochtenen Gürtel und, das wichtigste, seinen löchrigen, mit einer Kapuze versehenen Umhang.
Die Kleidungsstücke unter den Arm geklemmt, suchte sie einen Ort, an dem sie sich umziehen konnte, und ein leerer Karren kam ihr dazu gerade recht, so dachte sie zumindest.
Sie hatte ihre Verkleidung gerade vollendet und verbarg ihre Sachen sorgfältig unter ein paar leeren Säcken, als sie plötzlich Isobel hörte: »Was tut Ihr denn da, Lady Mary?«
Mary blieb fast das Herz stehen. Sie richtete sich mit hochrotem Gesicht auf; Isobel starrte sie mit großen Augen an.
»Der Umhang ist zu groß«, bemerkte sie. Mary ergriff das Mädchen an der Hand und zog es in den Schatten des Karrens. Ihr Herz schlug wie wild. Was für eine vernünftige Erklärung konnte sie der klugen Kleinen für ihre groteske Kleidung bieten? Sie konnte Isobel nur die Wahrheit anvertrauen, aber sie musste den Abenteuersinn des Kindes ansprechen.
»Aus der Entfernung«, fragte sie leise, »sehe ich da aus wie ein Junge?«
Isobel trat zurück und betrachtete sie genau. »Vielleicht wenn Ihr Euch Gesicht und Hände schmutzig macht. Was macht Ihr denn da?«
Mary zog sie wieder zu sich.
»Isobel, ich brauche deine Hilfe. Du musst mir versprechen, nichts zu verraten.«
Plötzlich wurde Isobels Miene anklagend. »Ihr habt Euch verkleidet, damit Ihr weglaufen könnt!«
»Ja, aber nicht aus dem Grund, den du meinst!«
Isobel erbleichte. »Ihr wollt von uns allen weglaufen, von Stephen, jetzt? Uns verlassen? Ich dachte, Ihr seid eine Freundin!«
»Bitte, hör mir zu!« Mary war verzweifelt. »Ich laufe nicht weg!«
Isobel blickte sie erwartungsvoll an.
»Ich will zu meinem Vater gehen und ihn bitten, mit diesem Krieg aufzuhören!
Jetzt schien Isobel schockiert. »Und Stephen weiß nichts davon?
»Nein. Er ist aufgebrochen, noch ehe mir dieser Gedanke überhaupt gekommen ist. Aber selbst wenn er es wüsste, würde er mich nicht gehen lassen. Ein Mann erlaubt seiner Frau nicht, sich in solche Dinge einzumischen.«
Sie erzählte der Kleinen nicht, dass ihr Bruder ihr nicht vertraute und ebenso wie Isobel glauben würde, dass sie fliehen wollte.
Isobels Augen glühten, und sie lächelte gespannt.
»Wenn Ihr Malcolm umstimmen könnt, oh, dann werden die Barden Geschichten über Euch erzählen, und die fahrenden Sänger werden Euch besingen. Dann werden sie nicht mehr nur Eure Schönheit preisen, sondern auch Euren Mut. Und Stephen – er wird dann nicht mehr zornig auf Euch sein. Er wird Euch wieder lieben!«
Mary schwieg.
Die Worte des Kindes gingen ihr zu Herzen, Worte, die ihre eigenen Hoffnungen ganz genau wiedergaben. Wie viel wusste Isobel? Wichtiger noch, wie viel konnte Isobel begreifen? Es schien, als würde sie Marys schwierige Lage bestens verstehen. Wie konnte so ein junges Mädchen
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