Die Geliebte des Normannen
und im nächsten Moment befand sich Mary innerhalb der Mauern, die für sie eigentlich vertraut und tröstlich sein sollten. Stattdessen kribbelte ihre Haut alarmiert, sobald das Fallgitter hinter ihnen heruntergelassen wurde. Sie konnte nicht umhin, sich wie in einem Gefängnis eingeschlossen zu fühlen.
Dies war kein Gefängnis, dies war ihr Zuhause, sagte sie sich, doch sie konnte ihre trüben Gedanken nicht vertreiben. Mary glitt von ihrem Pferd; sie konnte kaum stehen. Sie dankte den beiden stämmigen Männern, die sie eskortiert hatten. Nach ihrer Mutter musste sie nicht fragen; um diese Zeit war Margaret noch in der Frühmesse. Mary eilte zur Kapelle, so schnell ihre Müdigkeit es ihr erlaubte.
Nun endlich war der Anblick, der sich ihr bot, tröstlich. Angesichts der schlanken, eleganten Gestalt Margarets, die in ein stummes Gebet versunken vor dem Altar kniete – die Messe war offenbar bereits vorüber –, blieb Mary plötzlich stehen. Sie hielt den Atem an und fühlte sich gefährlich den Tränen nahe.
Wenn sie jetzt jemanden brauchte, dachte sie, dann ihre Mutter.
Sie musste ihr einfach alles erzählen: Wie Stephen ihr misstraute, wie sie Alnwick verlassen hatte in der Hoffnung, einen Krieg zu vermeiden, wie sehr ihre Ehe in Gefahr war. Auch über das schreckliche Gespräch mit ihrem Vater musste sie ihrer Mutter berichten. Und von ihrem Kind würde sie ihr erzählen.
Mary wischte sich eine vereinzelte Träne von der Wange, ging impulsiv auf ihre Mutter zu und sank neben ihr nieder. Margaret ließ sich von ihr nicht stören, doch das hatte Mary nicht anders erwartet. Dem Beispiel ihrer Mutter folgend, neigte sie das Haupt zum Gebet.
Sie betete für ein schnelles Ende des Krieges und für einen dauernden Frieden. Sie betete für eine unversehrte Heimkehr ihres Vaters und ihrer Brüder, und sie betete für eine unversehrte Heimkehr Stephens.
Sie wischte sich eine Träne weg und zögerte. Es erschien ihr nicht recht, Gott um Hilfe bei ihren eigenen Problemen zu bitten. Schließlich war sie bisher nie fromm und gehorsam gewesen. Aber irgendwie stellte sie sich Gott mildtätig und verständnisvoll vor, nicht als ein Wesen, mit dem man um gutes Verhalten feilschte.
Sie atmete tief durch und sprach dann die wichtigste aller ihrer Bitten aus: »Lieber Gott, bitte mach, dass Stephen die Wahrheit erkennt.« Dann fügte sie hinzu: »Und bitte mach, dass er mich liebt.«
Mary blieb noch eine ganze Zeitlang knien, in selige Gedankenleere versunken, plötzlich einer Last ledig und beinahe erleichtert. Nun erst merkte sie, dass sie noch nie in ihrem Leben so erschöpft gewesen war. Ihr Körper schmerzte von den endlosen Stunden im Sattel, und ihr Verstand war wie betäubt. Dann bemerkte sie, wie ihre Mutter sich erhob, und stand ebenfalls auf, doch ihre Muskeln sträubten sich gegen jede Bewegung.
In diesem Moment sah sie ihre Mutter zum ersten Mal richtig an. Margaret hatte dunkle Ringe um die Augen, als habe sie viele Nächte lang nicht geschlafen und als drückten die Sorgen sie nieder. Mary stockte der Atem, denn ihre Mutter war offenbar nicht nur erschöpft, sondern auch dünner als je zuvor und so bleich im Gesicht, dass Mary sich fragte, ob sie krank gewesen sei.
»Mutter.« Mary umarmte sie. »Warst du krank?«
»Nein.« Margarets Stimme stockte. »Was tust du hier?«
»Ich habe eine schreckliche Dummheit begangen«, gestand Mary. »Ich habe versucht, Vater von diesem Krieg abzubringen. Und Edward dachte, es sei zu gefährlich für mich, nach Alnwick zurückzukehren; deshalb hat er mich hierher geschickt.«
Margaret ergriff ihre Hand.
»Nun, ich freue mich, dich zu sehen, Liebes. Dieses Mal, allein mit meinen Frauen und ständig auf Nachricht wartend – ich kann es nicht ertragen.« Zurückgehaltene Tränen funkelten in Margarets Augen; ihre Hand zitterte.
»Mutter, was ist los?« Wenn Margaret nicht krank gewesen war, dann war sie es jetzt. Oder sie war sehr, sehr beunruhigt.
Ihr Mund zuckte.
»Ich werde dieses Gefühl nicht los, das ich schon seit Tagen habe, das Gefühl einer schrecklichen Katastrophe. Ich hatte noch nie im Leben solche Angst.« Sie schloss kurz die Augen. »Ich habe solche Angst um Malcolm und meine Jungen.«
Mary drückte Margarets Hand, doch auch ihr Herz schlug heftig, und sie spürte Furcht in sich hochsteigen. Hatte sie nicht dieselbe Vorahnung gehabt?
»Es wird ihnen nichts zustoßen, Mutter«, sagte sie. »Malcolm ist der größte Kriegsherr des Landes, er ist
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