Die geprügelte Generation
faschistische Überzeugung und seine unsäglichen Sprüche hinweisen würde, käme etwa Folgendes: ›Na ja, das wussten wir doch bald, dass der Alte spinnt. Das ging uns doch zu einem Ohr rein und zum anderen wieder raus, da haben wir doch nicht drunter gelitten‹«. Ja, nickt Henning noch einmal, um das zu bekräftigen, »auch das ist eine Wahrheit über meinen Vater, aber nicht meine.«
Alkoholexzesse wären für Erichs Vater undenkbar gewesen. »Der gehörte als einfacher Arbeiter damals zum Proletariat. Und das Proletariat hatte nur ein Ziel: den sozialen Aufstieg.« Diesem Ziel sei alles untergeordnet worden, und zwar mit höchster Disziplin. Abends traf man sich zwar schon mal in der Nachbarschaft beim Skat, trank auch einen, »aber es war ganz wichtig, am nächsten Tag zur Arbeit gehen zu können. Und Schulden machen war für meinen Vater undenkbar. Man sparte. Und zwar diszipliniert und vor allem für ein Eigenheim mit jährlichem Bausparvertrag. Das Leben war fixiert auf diesen sozialen Aufstieg.« Und sozialer Aufstieg hieß auch, dem Sohn sollte es später besser gehen. Dafür taten Erichs Eltern alles. Kratzten Geld zusammen, damit ihr Erich mit auf Klassenfahrt gehen konnte. Keinen Schul-Theaterbesuch versäumte. Es wurde alles getan, um das Fortkommen des einzigen Kindes zu sichern, auch wenn man selber Verzicht üben musste. »Das habe ich so mitbekommen. Natürlich bindet das auch.«
Kinder hatten sich nicht zu mucksen
Wini hatte als Kind keine Wünsche zu äußern. Auch nicht, wenn es nur um Kleinigkeiten ging. Um sogenannte süße Stückchen, Kuchen und Plätzchen, die es sowieso nur bei besonderen Gelegenheiten gab. Dann zum Beispiel, wenn Besuch kam. »Da hast du vorher gesagt gekriegt, ein Stück darfst du nehmen. Dann hast du die Gelegenheit genutzt, wenn der Besuch da war und du dich ganz mutig fühltest und gefragt, Mutti darf ich noch ein Stückle haben? Dann hast du unter dem Tisch ’nen Tritt gekriegt, über dem Tisch kam dann ein säuerliches: ›Ja, nimm dir‹, und hinterher bist du ordentlich zusammengeschissen worden, aber das süße Stückchen hast du dann wenigstens gehabt.« Heute weiß Wini sehr wohl, dass damals das Geld vorne und hinten nicht reichte. »Heute ist mir klar, dass die Mutter irgendwie gucken musste, wie sie über die Runden kam«.
Winis Eltern waren zwar keine aktiven Nazis gewesen. Haben sich aber, wie viele in der Nachkriegszeit, später auch nicht eindeutig vom Faschismus distanziert. Stattdessen herrschte bei Wini zuhause so ein verdeckter aber alltäglich präsenter Antisemitismus. Man erzählte sich Geschichten von jüdischen Kaufleuten, die irgendwelchen Leuten mal wieder ihre Möbel weggenommen hätten. Und in all den Jahren seiner Kindheit hat kein einziger seiner Verwandten jemals das Wort »Jude« ausgesprochen. »Wenn, dann wurde immer geflüstert, dann hieß es ›Jud‹. Des war ein Jud.« Als Wini in die Pubertät kam, Anfang bis Mitte der 60er Jahre, und anfing sich zu erkundigen, »was war da eigentlich los im Dritten Reich?« erhielt er immer die patzige Antwort: »Warst Du dabei?« Wenn er wissen wollte, ob tatsächlich sechs Millionen Juden umgebracht worden seien, kam prompt wieder der Standardsatz: »Warst Du dabei?« Er hatte das Gefühl, ihm werde das Recht abgesprochen, als junger Mensch der Nachkriegsgeneration hierüber irgendwie zu befinden.
Dabei verstand er durchaus, »dass diese Menschen, die sichverführt und um ihre Jugend betrogen fühlten, nicht so einfach loslassen konnten. Aber auf der anderen Seite müssen sie doch irgendwann gemerkt haben, wozu sie auch missbraucht worden waren.« Als dann in den 1968er Jahren die Studentenproteste aufkamen und Wini sich politisch engagierte, empörte sich sein Vater vor allem darüber, dass sein Sohn und all die anderen Protestierenden ausgerechnet gegen den Staat rebellierten, der sein Arbeitgeber war. Das ginge gar nicht, wetterte der kleine Postbeamte. Der Staat war für ihn sakrosankt. Der habe immer Recht. Mit dieser Haltung waren Väter wie der von Wini unter Hitler aufgestiegen, nach dem Zerfall dieses Terrorregimes abgestürzt. Und hatten doch nichts daraus gelernt.
9. Kapitel
GEPULLERT WIRD IM KOLLEKTIV
Wenig Revolutionäres aus dem sozialistischen Nachbarland
Als der dreijährige Sven sich einen Popel aus der Nase puhlte und ihn unbemerkt, aber genüsslich verspeiste, atmete ich auf. Auch als die Liebesperlen über den Boden kullerten, der Eimer Putzwasser aus Versehen
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