Die geraubte Braut
Entfernung zu hören.
Rufus gab keine Antwort und bot ihr das Stück Fleisch an, das noch auf der Messerspitze steckte. Ohne zu überlegen, griff sie danach, um sogleich einen leisen Schrei auszustoßen, als sie sich die Finger daran verbrannte.
»Vorsicht!« warnte er sie, und es klang aufrichtig besorgt. Er nahm das Stückchen mit bloßer Hand und pustete darauf. »So, versucht es jetzt.« Damit hielt er ihr den saftigen Happen an die Lippen, und Portia öffnete wie hypnotisiert den Mund. Es war köstlich, die Haut kroß und leicht gebräunt, das Fleisch saftig und zart. Sie genoss es wie ein Feinschmecker, der jeden Bissen voll auskostet, und vergaß in diesem Augenblick höchsten Genusses alles um sich herum, so dass ihr auch der anerkennende Schimmer in den Augen ihres Begleiters entging, der sie unausgesetzt beobachtete.
»Gut?« fragte er so leise, dass das Gefühl der Vertraulichkeit inmitten des überfüllten und lauten Burghofes noch wuchs. Er leckte seine Finger ab und strich dann mit seinem Daumen konzentriert und stirnrunzelnd über Portias Lippen und Kinn, wo sich ein Rinnsal aus Fleischsaft gebildet hatte. Seine Haut war aufgeraut, und ihr Mund erbebte unter der festen und doch weichen Berührung. Einen flüchtigen Augenblick umfasste er ihre Wange, und sie spürte die Schwielen seiner Schwerthand an ihrer zarten Haut. Ihre Nackenhärchen sträubten sich unter einer inneren Anspannung, dann ließ er sie los. Sie sah wie betäubt zu, als er wieder seinen Daumen ableckte, seinen Dolch in die Scheide steckte und seinen Handschuh anzog.
Langsam hörte die Welt um sie herum auf, sich zu drehen, und die Realität gewann die Oberhand. »Was wollt Ihr hier?« fragte Portia abermals.
»Ach, ich bin – wie sagt doch gleich der große Barde? – ein Lauscher, der unbedacht geäußerte Kleinigkeiten aufschnappt«, erwiderte er mit einer nonchalanten Geste, die die gesamte Szene zu umfassen schien.
»Ihr wollt hier spionieren?«
»Sozusagen.«
»Aber Lord Granville wird Euch hängen!« Sie sah deutlich vor sich, wie Granvilles Krieger sich auf sie stürzten. Alleine war Rufus ihnen trotz seiner Kraft hilflos ausgeliefert. Man würde ihn erschlagen, ehe … Als Augenzeugin von Hinrichtungen wusste sie, wie ein Körper am Galgen aussah – der Kopf in unnatürlichem Winkel, die heraushängende Zunge, das bläuliche Gesicht, die hervorquellenden Augen. Ihr wurde übel, und das Stückchen Fleisch, das sie eben mit so großem Genuss verspeist hatte, lag ihr fettig und bleischwer im Magen.
»Erst muss Granville mich entdecken.« Rufus' Blick glitt über ihr Gesicht, in dem die Sommersprossen sich im Zustand der Aufregung noch deutlicher von ihrer Blässe abhoben. »Was ist denn?« fragte er, als er Entsetzen in ihren schrägen grünen Augen las. »Ihr seht ja aus, als hättet Ihr den Teufel leibhaftig erblickt.«
»Das habe ich vielleicht«, sagte sie und riß sich zusammen. »Den Teufel in Gestalt von Rufus Decatur. Ist Euch klar, dass Lord Granvilles Getreue auf den kleinsten Wink meinerseits über Euch herfallen?«
»Aber Ihr werdet mich doch nicht verraten, Mistress Worth?« Er bewegte den Arm, und wieder umschlossen sie die Falten seines Mantels, so dass sie näher an ihn gezogen wurde.
Diese sonderbare und beunruhigende Nähe weckte in ihr das Gefühl, sich tief in feindlichem Territorium zu befinden. Sie wehrte sich gegen dieses Gefühl und fragte: »Warum nicht?«
»Ach, aus mehreren Gründen«, sagte er mit unmerklichem Lächeln. »Erstens glaube ich nicht, dass Ihr imstande wäret, einen Menschen dem Tod auszuliefern.«
»Bei einem Decatur wäre ich dazu imstande«, stieß sie hervor, nichts anderes im Sinn, als sich endlich von ihm zu lösen. Doch sie hatte die Mauer im Rücken, und sein Körper stand wie ein Schild vor ihr, wobei sein Mantel und der Pfeiler sie vom Rest der Welt trennten und isolierten. Sie schufen Intimität und Abgeschiedenheit. »Ihr vergeßt, dass ich eine Granville bin, Lord Rothbury.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, das vergesse ich nicht. Dennoch …« Sein Lächeln vertiefte sich, und sie sah um seine Augen kleine Fältchen, die sich weiß von der wettergegerbten Haut abhoben. »Dennoch haben wir etwas gemeinsam, Ihr und ich«, raunte er. »Ich gehöre nicht hierher, aber Ihr ebenso wenig, meine Liebe.«
Seine Worte machten ihr eine so erschreckende Wahrheit bewußt, dass Portia ihn nur stumm anstarren konnte.
Rufus lachte leise. »Nun, hat es Euch die Rede
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