Die Gerechten
dieser Gegend lächerlich und auffallend weiß vor. Die Häuser waren nicht völlig verwahrlost, aber ziemlich heruntergekommen. Graffiti, Treppenhäuser, die nach Pisse stanken, und – allen modischen Theorien der Universitätskriminologen zum Trotz – jede Menge zerbrochene Fensterscheiben. Er würde sich die Leute vorknöpfen müssen, die er auf der Straße traf, und hoffen, dass sie redeten.
Als Erstes nahm er sich vor, sich an die Frauen zu halten. Ihm war klar, dass es ein feiger Vorsatz war, aber das war kein Grund, sich zu schämen. Bei einem hoch angesehenen Auslandskorrespondenten hatte er einmal gelesen, die besten Kriegsberichterstatter seien Feiglinge. Die Wagemutigen lebten nicht lange. Das hier war nicht gerade der Nahe Osten, aber ein Krieg – ob es nun um Drogen, Gangs oder Rassenhass ging – fand hier sehr wohl statt.
Die erste Frau, die er ansprach, wusste nichts, und bei der nächsten war es nicht anders. Die dritte hatte den Namen schon gehört, konnte aber nichts damit anfangen. Sie schickte ihn zu jemand anderem; bald darauf sprach ein Nachbar den nächsten an, und schließlich stand Will vor der Frau, die Howard Macrae gefunden hatte.
Sie war Afroamerikanerin, Mitte fünfzig, und hieß Rosa. Vermutlich war sie eine Kirchgängerin, dachte Will, eine der schwarzen Frauen, die verhinderten, dass Gemeinden wie diese hier vollständig untergingen. Sie war bereit, mit ihm zum Tatort zu gehen.
»Na ja, ich war im Supermarkt und hatte Brot und Mineralwasser gekauft, und dann sah ich da einen großen Klumpen auf dem Gehweg. Ich weiß noch, ich hab mich geärgert, als ich näher kam, weil ich dachte, da hätte wieder jemand Möbel auf die Straße geworfen. Aber dann sah ich, dass es kein Sofa war oder so was. Nein. Es war zu klein und irgendwie klumpig.«
»Da haben Sie gesehen, dass es ein Toter war?«
»Erst als ich ganz dicht davor war. Bis dahin sah es einfach aus wie ein … na, wie ein Klumpen, wissen Sie.«
»Es war dunkel.«
»Ja, ziemlich dunkel und ziemlich spät. Aber als ich davor stand, dachte ich: Das ist kein Sofa, und das ist kein Sessel. Das ist ein Toter, der da unter der Decke liegt.«
»Verzeihung, aber ich muss noch mal zum Anfang zurück. Was haben Sie gesehen, bevor die Decke auf die Leiche gelegt wurde?«
»Sag ich doch. Eine dunkelbraune Decke mit einem Toten drunter.«
»Die Decke war schon da? Dann waren Sie nicht die Erste, die ihn gefunden hat?« Verdammt.
»Doch, ich war die Erste. Ich hab die Polizei angerufen. Niemand außer mir. Sie haben’s von mir erfahren.«
»Aber der Leichnam war schon zugedeckt.«
»Genau.«
»Die Polizei glaubt, Sie hätten die Decke darüber gelegt, Rosa.«
»Na, dann irrt sich die Polizei. Wo soll ich denn mitten in der Nacht eine Decke hernehmen? Oder glauben Sie, die Schwarzen hier schleppen für alle Fälle immer eine mit sich rum? Ich weiß, es ist ziemlich übel hier in der Gegend, aber so übel nun auch wieder nicht.«
»Gut.« Will überlegte etwas verunsichert, wie er fortfahren sollte. »Wer hat denn die Decke dort hingelegt?«
»Ich sag Ihnen das, was ich auch der Polizei gesagt hab. Ich hab ihn so gefunden. War sogar ’ne gute Decke. Schön weich. Cashmere vielleicht. Hatte jedenfalls Klasse.«
»Entschuldigen Sie, ich komme nochmal drauf zurück: Kann es sein, dass Sie doch nicht die Erste am Tatort waren?«
»Kann ich mir nicht vorstellen. Die Polizei hat’s Ihnen doch sicher erzählt: Er war noch warm, als ich hinkam. Als wär’s gerade erst passiert. Das Blut lief noch raus. Sprudelte beinahe – wie Wasser bei einem Rohrbruch. Schrecklich, einfach schrecklich. Und wissen Sie, was merkwürdig ist? Seine Augen waren geschlossen, als hätte sie jemand zugedrückt.«
»Sagen Sie nicht, das waren Sie auch nicht.«
»Aber ich war’s nicht. Hab ich nie behauptet.«
»Was glauben Sie dann, wer es getan hat? Wer ihm die Augen zugedrückt hat, meine ich?«
»Wahrscheinlich halten Sie mich für verrückt – wenn man bedenkt, wie sie den armen Kerl abgestochen haben. Aber es war fast so, als ob … Nein, Sie glauben bestimmt, ich bin verrückt.«
»Nein, das glaube ich nicht. Reden Sie weiter.« Will beugte sich vor, eine Haltung, die er oft instinktiv einnahm. Groß zu sein war ein Vorteil, denn es konnte einschüchternd wirken. Aber diese Frau wollte er nicht einschüchtern; sie sollte entspannt bleiben, und wenn er den Rücken krümmte, konnte sie ihm in die Augen sehen, ohne dass sie aufschauen musste.
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