Die Gerechten
nicht eine Krankheit, mit der sie leben konnte wie die Betroffenen in Europa und den USA. Dieses Heilmittel würde kein Heilmittel für sie und die Millionen Frauen, Männer und Kinder auf der ganzen Welt sein, die ihr Schicksal teilten. Das Medikament würde sie nicht erreichen, weil es zu teuer war. Das Unternehmen hatte ein Patent auf das Mittel, das erst in zwanzig Jahren auslaufen würde. Bis dahin hatten sie das Monopol und konnten dafür verlangen, was sie wollten.
Und so war er heute zu FedEx gegangen und hatte einen großen Karton abgeliefert, adressiert an einen Mann in Bombay, den er noch nie gesehen hatte. Verehrt und geschmäht als König der Kopierer, hatte dieser Mann ein Vermögen damit verdient, Schwarzkopien der neuesten westlichen Medikamente zu einem Zehntel des Marktpreises an Länder der Dritten Welt zu verkaufen. Mit einigen der ersten Aidsmittel hatte er es auch getan. Jetzt würde er in den nächsten ein, zwei Tagen eine vollständige Herstellungsanleitung für dieses Medikament erhalten. Andres Anweisung war klar. »Stellen Sie es her und verteilen Sie es an die ganze Welt. Sofort.«
Die Sonne ging allmählich unter, und inzwischen konnte er die Wellen besser hören als sehen. Jetzt wollte er in eine Bar gehen und ein Bier trinken. Der Himmel wusste, wann er wieder Gelegenheit dazu haben würde. Schon morgen konnte die Firma seinen Diebstahl und seinen Verrat entdecken und ihn unter einem Dutzend Vorwürfen verhaften lassen. In Anbetracht der Summen, die auf dem Spiel standen, würden sie ein Exempel statuieren müssen: Er konnte auf Jahre ins Gefängnis wandern.
Deshalb wollte er diesen Abend genießen. Er trank etwas, er flirtete. Und als ein schönes Mädchen mit langen, bronzebraunen Beinen und einem Rock, der kaum den Hintern bedeckte, auf ihn zukam, lief er zu seiner Bestform auf. Sie lachte über seine Scherze; er legte die Hand auf ihren glatten, nackten Schenkel.
Die Fahrt in ihrem Cabrio wurde an jeder Ampel von langen Zungenküssen unterbrochen. Sie stolperten in ihr Apartment, und ihre Kleider fielen Stück für Stück zu Boden. Und als sie ihm einen Drink machte, stürzte er ihn dankbar hinunter, ohne den pulvrigen Bodensatz zu bemerken, der unaufgelöst tief unten im Glas lag.
Er hustete ein bisschen; ihm wurde schwindlig, und er nahm sich vor, beim nächsten Mal weniger zu trinken. Während er langsam das Bewusstsein verlor und dem Tod entgegen sank, hörte er die Stimme des Mädchens. Was sie leise rezitierte, klang wie ein Gedicht. Vielleicht wie ein Gebet.
32
SAMSTAG, 23.27 UHR, MANHATTAN
Ohne Gewissensbisse und sexuelle Begierde hätte Will ihn vielleicht gar nicht gesehen.
Er hatte TC noch nichts von Jay Newells Anruf und seinem Durchbruch erzählt, als sie sich auf Zehenspitzen aufrichtete, um ein Buch aus einem der obersten Regale zu nehmen. Die dünne Bluse über den Jeans rutschte hoch und entblößte die straffe, makellose Haut ihres Rückens. Und trotz seiner Beschämung fing er schon wieder an, die Konturen ihres Körpers zu betrachten. Er wandte sich ab.
Um keinen Zweifel daran zu lassen, dass er sie nicht anstarrte, schaute er bemüht woanders hin, und zuerst fiel sein Blick auf ihren Schreibtisch. Stapel von Papier lagen dort, Ausschnitte aus Zeitschriften, hauptsächlich aus Kunstmagazinen, aber auch ein paar aus dem New Yorker und dem Atlantic Monthly. Programmhefte einiger Filmkunstkinos, ein, zwei Bekleidungskataloge, drei dicke Vogue- Hefte und ein handgeschriebener Brief.
In einem Vorstellungsgespräch hätte er seinen nächsten Impuls als »professionelles Interesse« dargestellt, aber in Wahrheit war er einfach neugierig. Er zog das Blatt zwischen einem New York Times- Sonntagsmagazin und einem Programm des Lincoln Center heraus, bis er einen Blick auf die obere Hälfte werfen konnte.
Der Brief war in einer Sprache geschrieben, die er nicht kannte, in Schriftzeichen, die er nicht lesen konnte. Aber es war eindeutig ein Brief; es war ein privater Briefbogen, und das Datum in der rechten oberen Ecke bestand aus konventionellen Zahlen.
Er hätte sich daran erinnert, wenn TC eine Fremdsprache gesprochen hätte. Im Gegenteil, eines der wenigen Gebiete, auf denen sie nichts vorzuweisen hatte, war das der Fremdsprachen, das wusste er. Sie hatte immer gesagt, wie sehr sie es bedauerte, niemals Französisch oder Spanisch gelernt zu haben; trotz ihrer umfassenden Bildung hatte sie dazu nie die Zeit gefunden.
Egal, dachte er und tadelte sich insgeheim
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