Die Gerechten
waren die übrigen?
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SAMSTAG, 19.05 UHR, KAPSTADT, SÜDAFRIKA
Er war immer hergekommen, als es eine rein weiße Gegend war. Dieser sanft geschwungene helle Sandstrand war sein Lieblingsplatz. Als Student hatte er hier die Mädchen begafft und kastenweise Bier getrunken. Damals hatte die ganze Welt geglaubt, sein Land stehe in Flammen und verzehre sich in einem Rassenkrieg. Aber so hatte es sich nicht angefühlt, jedenfalls nicht für ihn. Er war weiß und wohlhabend und amüsierte sich bestens. Er kannte ein, zwei Leute, die Petitionen unterschrieben, aber ansonsten drang die Politik nicht in sein Leben ein. Außerdem war er als Afrikaaner im ländlichen Herzen von Transvaal in der Überzeugung aufgewachsen, dass die Rassentrennung – Apartheid genannt – nicht anstößig, sondern naturgegeben sei. Auf der Farm hatten Kaninchen und Rinder ihren jeweils eigenen Platz gehabt und sich nicht vermischt. Was war bei Schwarzen und Weißen da anders?
Heute sah der Strand so schön aus wie immer. Das Wasser funkelte im Mondschein. Er schaute hinaus auf den Atlantik und hörte hinter sich das Treiben in den Bars, aber heute war das Publikum gemischt: Schwarze, Weiße und solche, die man in seiner Jugend Farbige genannt hatte. Er versuchte den Lärm auszublenden; er wollte seinen eigenen Gedanken zuhören.
War er stolz auf das, was er getan hatte? Er wusste es nicht genau. Erleichtert – das ganz sicher. Er hatte diesen Augenblick monatelang geplant. Jeden Tag hatte er ein anderes Dokument mit nach Hause genommen – manchmal ein Diagramm, manchmal eine algebraische Zahlenreihe –, bis er das ganze Portfolio beisammen hatte.
Er atmete tief aus. Er dachte an die Jahre auf der Universität, gefolgt von weiteren Jahren der Promotion, die er großenteils im Labor verbracht hatte. Mit siebenundzwanzig war er Forschungspharmakologe gewesen, und in den nächsten fünfzehn Jahren hatte er an einem einzigen Projekt gearbeitet, das den Codenamen »Operation Help« trug. Andre van Zyl gehörte zu einem Team, das ein Heilmittel gegen Aids suchte.
Natürlich waren sie nur Teil eines größeren Unternehmens. Die Zentrale des Forschungsprojekts war in New York, und weitere Teams arbeiteten in Paris und Genf. Die Außenabteilung in Südafrika war kleiner, und der Grund für ihre Existenz war ihre »klinische Resonanz«, wie es in der Literatur des Unternehmens genannt wurde: Südafrika hatte einen unerschöpflichen Vorrat an Aidskranken.
Seit Jahren erprobten sie jetzt neue Mittel an verschiedenen Gruppen. Andre war bei mehreren dieser Tests dabei gewesen; Kliniken irgendwo draußen auf dem Land nahmen hundert kranke Männer und Frauen auf, markierten fünfzig als Kontrollgruppe und gaben den Übrigen das neue Medikament. Andre hatte am Computer gesessen, wenn die Resultate kamen. Immer wieder war sein Bericht zu derselben Schlussfolgerung gekommen: wirkungslos, Resultate statistisch vernachlässigbar. Weitere Arbeit erforderlich.
Aber vor neun Monaten war ein Datensatz von einem Versuch gekommen, der nicht zu ignorieren war. Die Sample-Gruppe hatte eine Besserung gezeigt, wie man sie noch nie gesehen hatte. Die Symptome wurden nicht nur im Zaum gehalten – sie existierten nicht mehr. Anscheinend stellte das Mittel das Virus nicht nur ruhig, sondern vertrieb es aus dem Körper.
Knapp eine Woche später waren Wissenschaftler des Genfer Teams eingeflogen, um sich die Patienten selbst anzusehen. Ein paar Tage später war der Projektleiter aus New York gekommen. Unverzüglich ordnete er an, dass die Kontrollgruppe ebenfalls mit dem neuen Medikament zu versorgen sei – aus »humanitären Gründen«.
Darüber hatte Andre lachen müssen. Denn er wusste, was als Nächstes geschehen würde. Der Big Boss aus Amerika würde einen Aufsatz in Nature veröffentlichen, seinen Durchbruch hinausposaunen und sich um den Nobelpreis bewerben, der ihm sicher war, und die amerikanische Medikamentenzulassungsbehörde würde das neue Mittel prüfen. Sowie es den Zulassungsstempel hätte, würde es in den Handel kommen und das Unternehmen, für das sie alle arbeiteten, zu einem der reichsten der Welt machen. Sie hatten den Heiligen Gral der Medizin des 21. Jahrhunderts gefunden: ein Heilmittel gegen Aids. Das einzige Problem waren Leute wie Grace, die Frau, die Andre in einem der ersten Erprobungsverfahren kennen gelernt hatte. Weil sie zu arm war, um die Antiretroviralmedikamente zu kaufen, die sie brauchte, war Aids das Todesurteil für sie –
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