Die Gerechten
dafür, dass er seine Energie auf eine so unwichtige Sache verschwendete. Er wandte sich ab, zog den Vorhang beiseite und schaute aus dem Fenster. Draußen stieg ein Paar aus einem eben geparkten Volvo. Vielleicht kamen sie aus dem Kino oder von einem Essen mit Freunden. Er und Beth sähen genauso aus, wenn sie ein normales Leben genießen könnten. Die bloße Vorstellung erschien jetzt absurd. Zum hundertsten Male seit jenem kurzen Telefongespräch vor einigen Stunden hörte er ihre Stimme. Will? Will, ich bin’s. Beth.
Er wandte seinen Blick ab, die Straße hinauf. Zwei Halbwüchsige in Oversized-Jeans schlenderten vorbei, und eine Frau im mittleren Alter hielt eine einzelne Blume in der Hand. Sofort stand Will vor Augen, wie ihm Beth im Carnegie Deli die Geschichte vom Jungen X erzählte, der der trauernden Sekretärin Marie eine Blume geschenkt hatte. Beth hatte sein Handeln, seine menschliche Reaktion tief bewegt. Will war überzeugt, dass sie es gewesen war, die diesen wilden, geschädigten Jungen in irgendeiner Weise dazu motiviert hatte.
Direkt unter ihm, auf dem Bürgersteig gegenüber, stand der Mann mit der Baseballcap.
Will erkannte ihn nicht gleich wieder. Selbst als er die blaue Vlies-Weste sah, funkte es nicht sofort. Aber etwas in seiner Haltung, eine gewisse Entspanntheit, ließ erkennen, dass er nirgendwohin unterwegs war, sondern hier sein wollte. Und Will ging ein Licht auf.
Er riss den Vorhang zu und trat einen Schritt zurück. Er hatte diesen Mann heute Abend schon einmal gesehen – er hatte ihn für einen einsamen Touristen gehalten, der das Gebäude der New York Times betrachtete und sich den Aushang anschaute, als habe er nichts Besseres zu tun. Und jetzt stand derselbe Mann draußen vor TCs Haus. Das war kein Zufall.
»TC, wie viele Ausgänge hat das Haus?«
Sie sah von der alten King James-Bibel auf, die sie gerade aus dem Regal genommen hatte. »Was? Wovon redest du?«
»Ich glaube, jemand ist mir gefolgt, und ich glaube, wir müssen sofort verschwinden. Aber den Vorderausgang können wir nicht benutzen. Fällt dir was ein?«
»Du machst Witze. Wie soll irgendjemand –«
»TC, wir haben keine Zeit für Diskussionen.«
»Hinten ist eine Feuertreppe, die in den Hinterhof führt.«
»Zu riskant. Hinten könnte auch jemand stehen. Gibt es hier einen Hauswart?«
»Einen was?«
»Du weißt schon, einen Hausmeister.«
»O ja. Ein netter Kerl. Wohnt im Souterrain.«
»Kennst du ihn? Bitte sag mir, dass er eine Schwäche für dich hat.«
»Ein bisschen, ja. Warum? Woran denkst du?«
»Das wirst du gleich sehen. Pack alles ein, was du vielleicht brauchst.«
»Was ich wozu brauche?«
»Um die Nacht woanders zu verbringen. Ich glaube, wir können nicht riskieren, heute nochmal herzukommen.«
Er drängte sie, sammelte hastig ihre Post-it-Zettel ein, sein Telefon und den Blackberry, und stopfte alles in die geräumigen Taschen seiner Jacke. Er hörte, wie TC in ein paar Schubladen wühlte.
An der Wohnungstür sahen sie sich noch einmal um. TC griff gewohnheitsmäßig zum Lichtschalter, aber Will hielt ihren Arm gerade noch rechtzeitig fest.
»Wir wollen doch nicht zeigen, das wir weggehen.«
Will hatte noch eine Idee. Wie so viele sicherheitsbewusste New Yorker hatte TC Zeitschaltuhren an diversen Lichtschaltern. Man benutzte sie, wenn man verreiste, als Phantombewohner, die morgens und abends zu verschiedenen Zeiten das Licht ein- und ausschalteten. Ohne zu fragen, ging Will zu der Uhr für das Wohnzimmer und stellte sie auf Mitternacht. Nein, zu adrett. Zehn vor zwölf. Dann ging er in TCs Schlafzimmer. Er vermied es, sich allzu eingehend umzuschauen, um die Barriere der Diskretion zwischen ihm und seine Exfreundin nicht vollends einzureißen, und dort stellte er die Uhr so, dass das Licht um Viertel vor zwölf ein- und zwanzig Minuten später ausgeschaltet wurde. Wenn sie Glück hatten, würde der Spanner dort draußen vermuten, dass Will und seine Freundin schlafen gegangen waren.
Als alles getan war, gingen sie hinunter ins Kellergeschoss. Überheizt, wie es war, und mit den Reihen klinkenloser Türen sah es aus wie ein unmenschlicher Ort zum Leben. Aber Mr. Pugachov, der russische Hausmeister, war hier zu Hause. TC klopfte leise an seine Tür. Dahinter hörte Will zu seiner Erleichterung einen Fernseher. Knarrend öffnete sich die Tür.
Zu Wills Überraschung war der Hausmeister kein mürrischer alter Mann in einer durchlöcherten Strickjacke und ausgelatschten
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