Die Gerechten
Erinnerungen. Die langen Winter im englischen Internat, in denen Will jede der dreitausend Meilen spürte, die ihn von seinem Vater trennten. Die Freude, wenn ein Paket ankam, das oft irgendetwas wunderbar Amerikanisches enthielt – etwa ein Päckchen Bubblegum oder, unvergessen, einen ledernen Baseball. Und dann die Aufregung, wenn er in den Sommerferien in ein Flugzeug gesetzt wurde, als »allein reisender Jugendlicher« auf dem Weg zu seinem Dad. Jene Augustwochen in Sag Harbor waren der Höhepunkt in Wills Jahresablauf. Selbst jetzt, zwanzig Jahre danach, konnte er noch den Kloß in seinem Magen fühlen, wenn der September näher kam und er wieder zum Flughafen musste – und wieder für ein Jahr von seinem Dad getrennt war.
Will zwang sich zurück in die Gegenwart. Er hatte schon im Zug angefangen, aber nun konnte er ihr endlich in Ruhe erzählen, was ihm auf den Nägeln brannte, seit er den Anruf auf seinem Handy abgehört hatte. TC hörte zum ersten Mal von Jay Newell und von dem Gespräch, das Will am Abend mit ihm geführt hatte. Aber sie begriff schnell; als Will ihr berichtet hatte, was Jay auf seine Voicemail gesprochen hatte, brauchte sie seine Hilfe nicht, um eins und eins zusammenzuzählen.
»Baxter und Macrae wurden also beide betäubt, bevor man sie ermordete. Beide galten bei Leuten, die sie kannten, als Gerechte, und JJ zufolge – und wenn du das Buch der Sprüche, Kapitel zehn richtig liest – ist diese Eigenschaft in irgendeiner Weise von Bedeutung und könnte erklären, was es mit der Verschwörung der Chassiden auf sich hat: warum sie Beth entführt haben, warum der Mann in Bangkok sterben musste, warum sie dich – oder uns – heute Abend verfolgen ließen. Das ist in groben Zügen deine Theorie, nicht wahr?«
»Es ist inzwischen ein bisschen mehr als eine Theorie, TC. Zwei erledigt, bald mehr. Bald neue Morde. Das hat er geschrieben. Es war direkt an mich gerichtet! Er hat meine Artikel in der Times gelesen und sagt: Okay, zwei hast du, aber es wird weitere geben. Mit anderen Worten, sie hängen mit allem anderen zusammen! Siehst du das nicht?«
»Doch, doch, ich sehe es.« TC sah, dass Will in Erregung geriet. Sie wollte ihn nicht reizen, und sie wollte auch nicht die Rolle spielen, die sie in ihrer Beziehung so oft gespielt hatte, die Rolle der haarspalterischen Pedantin, der Spaßverderberin, die jederzeit einen intellektuellen Torpedo bereithielt, der – genau gezielt – jede neue Idee leckschlagen und versenken konnte.
»Ich sehe durchaus, dass zwischen all dem ein Zusammenhang bestehen muss. Das Dumme ist … besser gesagt, mein Problem ist, dass ich nicht ganz begreife, wie wir von dem Komplex Macrae/Baxter/Gerechtheit – der zugegebenermaßen faszinierend und unglaublich ist – zu dem ›weiteren‹ kommen, das angeblich bevorsteht.«
Sie hatte ihr Bestes versucht, um ihm ihre Bedenken schonend beizubringen, aber sie konnte nicht anders: Sie dachte die Dinge geradlinig durch und brachte sie dann auch so zum Ausdruck.
Sie sah ihm am Gesicht an, dass es schief gegangen war. Die kindliche Begeisterung, die er noch vor ein paar Sekunden gezeigt hatte – der gleiche aufgeregte Eifer, in den sie sich einmal verliebt hatte –, war verschwunden. Er sank auf seinem Stuhl zusammen.
»Nein, Will, sei nicht enttäuscht. Es ist ein großer Schritt nach vorn. Wir stehen sicher kurz vor der Lösung. Lass uns ein bisschen schlafen, und dann denken wir über den Rest nach.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, und Erinnerungen durchströmten sie beide wie ein Stromschlag. »Los, wir schaffen das.«
Unvermittelt sprang Will auf und stürmte aus der Küche. Sie lief ihm nach.
»Will, Will! Bitte, tu das nicht.«
Als sie ihn eingeholt hatte, sah sie, dass Will nicht weggelaufen war, weil er gekränkt reagierte. Es ging nicht um sie, erkannte sie erleichtert. Will hatte eine Idee!
Die Wände im Arbeitszimmer seines Vaters waren vom Boden bis zur Decke mit Büchern ausgefüllt: in Leder gebundene Gesetzeskommentare, gesammelte Prozessakten, zahllose Bände mit Urteilen des Obersten Gerichtshofs, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichten. An einer anderen Wand stand zeitgenössische Literatur, Bücher über Politik und die Verfassung und natürlich juristische Fachliteratur. Alles war mit dem Ordnungseifer eines Bibliothekars aneinander gereiht, nach Themen gruppiert und in jeder Kategorie alphabetisch geordnet. Ihr Blick fiel auf die religiöse Abteilung: Dokumente der
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