Die Gerechten
Einrichten installiert, und die Leute vergessen es meistens. Dann sitzt es da rum, überwacht das Netzwerk und registriert, wann du verbunden bist.«
»Und?«
»Das Wichtige daran ist: Die Leute vergessen, dass es da ist. Also widmen sie ihm nicht die liebevolle Aufmerksamkeit, die sie dem übrigen System entgegenbringen. Alte Sicherheitslücken, die anderswo längst geschlossen wurden, sind im Bereich des Time Service manchmal immer noch offen.«
»Du meinst, wie ein Loch im Gartenzaun, ganz hinten, wo kein Mensch hinguckt?«
»Genau. Jetzt frag ich mich nur, ist der Time Service durch eine, sagen wir, natürliche Ursache abgestürzt – oder hat jemand versucht, da einzudringen. Wenn einer weiß, was er tut, kann er einen ›Buffer Overflow‹ verursachen – das heißt, er kann mit einem großen Haufen Daten in einer bestimmten Sequenz den Datenpuffer des Time Service überlaufen lassen und ihn damit flachlegen. Und wenn einer wirklich weiß, was er tut, kann er ihn nicht nur einfach abstürzen lassen, sondern sozusagen nach seinem Belieben umsteuern.«
»Was soll das heißen?«, fragte Will.
»Er kann das Programm dazu bringen, seine Befehle auszuführen, und damit hat er effektiv Zugang zum Server.«
»Und das ist hier passiert?«
»Ich weiß es nicht. Ich muss das Zugriffslog des Time Service sehen. Darauf warte ich gerade … hey, halt! Das ist gut. Seht ihr das? Da?« Er deutete auf eine Zahlenreihe neben dem Zeitpunkt des Programmabsturzes, ein Uhr achtundfünfzig. »Hallo, Fremder.«
Es war eine neue IP-Adresse, anders als alle andern, die dem Netzwerk der Chassiden zugewiesen waren. Es war die Signatur eines Außenseiters.
»Kannst du sehen, wer das ist?«
»Ich bin gerade dabei, es herauszufinden.« Er tippte: »Who is 89.23.17.09?«
»Und hier ist eure Antwort.«
Tom deutete auf eine Zeile auf dem Monitor. Will brauchte eine Sekunde, um die Worte zu erfassen. Aber da standen sie – Worte, die alles veränderten. Weder er noch TC brachten ein Wort heraus. Alle drei starrten schweigend auf die Adresse auf dem Bildschirm. Die Organisation, die sich in die Computer der Chassiden gehackt hatte, saß in Richmond, Virginia, und ihr Name leuchtete vor ihnen auf dem Monitor. Die Kirche des Wiedergeborenen Jesus.
57
MONTAG, 17.13 UHR, DARFUR, SUDAN
Die Nacht des fünfunddreißigsten Mordes war sehr still. Es war heiß, und es gab wenig zu essen, und so waren die Menschen zu teilnahmslos, um viel Lärm zu machen. Der Ruf zum Gebet war das Einzige, was tagsüber zu hören war; der Rest war Stöhnen und Wispern.
Mohammed Omar sah das Hitzeflimmern über dem Horizont und schätzte, dass die Sonne in ein paar Minuten untergehen würde. So war es in Darfur: Morgens kam die Sonne unvermittelt herauf, und verschwand abends genauso schnell. Vielleicht war es überall im Sudan so, vielleicht überall in Afrika. Mohammed wusste es nicht; er war nie aus dieser steinigen Wüste hinausgekommen.
Es war Zeit für seinen abendlichen Rundgang durch das Lager. Als Erstes würde er zu Hawa gehen, dem dreizehnjährigen Mädchen, das sechs Geschwistern die Mutter ersetzen musste. Vor zwei Wochen waren sie ins Lager gekommen, nachdem die Janjaweed-Milizen ihr Dorf angezündet hatten. Die Kleinen waren so verängstigt, dass sie nicht sprachen, aber Hawa hatte Mohammed erzählt, was passiert war. Mitten in der Nacht waren Furcht erregende Reiter gekommen und hatten brennende Fackeln geschwenkt, und sie hatten alles angezündet. Hawa hatte ihre Schwestern an sich gerafft und war weggelaufen. Erst als sie entkommen waren, wurde ihnen klar, dass ihre Eltern zurückgeblieben waren. Sie waren beide umgebracht worden.
Jetzt hockte sie in einer Hütte aus Reisig und Stroh und hielt ihre dreijährige Schwester auf dem Arm. Auf dem Boden vor der Tür stand ein verbeulter Topf mit einer kleinen Ration Grütze.
Mohammed ging weiter und machte sich auf die nächste Station seines Rundgangs gefasst, auf die »Klinik«, die in Wirklichkeit auch nichts weiter war als eine klägliche Hütte. Kosar, die Hebamme, war da, und ihr Gesicht sagte ihm, was er nicht hören wollte. »Wie viele?«, fragte er.
»Drei. Und heute Nacht vielleicht noch eins.«
Seit Wochen verloren sie jetzt jeden Tag drei Kinder. Ohne Medikamente und ohne Lebensmittel wusste er nicht, wie er das Sterben beenden sollte.
Er sah sich um. Ein leerer Wüstenwinkel, geschützt von ein paar verkümmerten Bäumen. Er hatte nicht vorgehabt, hier ein Flüchtlingslager
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