Morgenstunden andauert.
Sie waren Gäste bei Judah Bitensky, einem der letzten jüdischen Bewohner des Hauses, das einst ein Zentrum der jüdischen Gemeinde am East Broadway war. Anscheinend ist Mr. Bitensky, der als Hausmeister in einer der letzten Synagogen der Gegend tätig ist, Gastgeber eines jährlichen Seder-Mahls, zu dem er alle diejenigen in seine Wohnung einlädt, die kein eigenes Zuhause haben.
»Das ist eine Art Tradition«, sagt Irving Tannenbaum, 66, ein Stammgast bei diesem Mahl. »Jedes Jahr öffnet Judah Leuten wie uns seine Tür. Manche sind einfach alt und allein, und andere leben auf der Straße, wissen Sie. Eine bunte Truppe ist das.«
Rivvy Gold, 51 und obdachlos, fügt hinzu: »Es ist das beste Essen, das ich im ganzen Jahr kriege. An diesem Abend glaube ich, ich habe eine Familie.«
Der Downtown Express zählte sechsundzwanzig Personen, die nach dem Alarm wieder in Mr. Bitensky winziges Apartment zurückkehrten – darunter drei im Rollstuhl und zwei auf Krücken. Mr. Bitensky war nur widerstrebend bereit, einem Reporter Fragen zu beantworten. Wir fragten ihn, -wie er es schaffe, so vielen zu essen zu geben, obwohl er doch selbst nur über ein spärliches Einkommen verfüge. »Irgendwie klappt's immer«, sagte er. »Ich weiß nicht genau, wie.«
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MONTAG, 14.25 UHR, BROOKLYN
Will blieb auf seinem Posten am Fenster und schlug regelmäßig den Vorhang zurück, um auf die Straße hinunterzuschauen. Er wusste, dass es unvernünftig war. Wenn jemand ihm gefolgt sein sollte, konnte er die Aufmerksamkeit kaum besser auf sich lenken als damit, dass er den Stoff hin und her bewegte, als wolle er Lichtzeichen senden.
Er hatte sich von seinem Vater nur wenige Minuten, nachdem er ihn abgeholt hatte, verabschiedet. Monroe Sr. hatte ihn ratlos angestarrt, als Will ihm auf dem Blackberry die Bitensky-Story zeigte – als wäre diese ganze Sache viel zu verrückt, um sich ernsthaft mit ihr zu beschäftigen. Seine Gesten drückten aus, was er dachte – Hör einfach auf mit all diesem Unsinn –, und dann wollte er Will mit zu sich nach Hause nehmen. Da könnte er dann duschen, schlafen und sich insgesamt etwas beruhigen. Linda würde sich um ihn kümmern. Er selbst musste sich auf einen wichtigen Fall heute Morgen vorbereiten, aber am Abend wäre er wieder zu Hause. Dann könnten Vater und Sohn die Köpfe zusammenstecken und gemeinsam daran arbeiten, Beth wieder zurückzuholen. Es war ein verlockendes Angebot, aber Will lehnte ab. Er hatte schon genug Zeit verschwendet. Er dankte seinem Vater und schickte ihn wieder zu seinem Auto zurück.
Dann tippte er eine SMS an TC.
Zu seiner großen Erleichterung hatte sie schließlich angerufen. Sie war am Morgen um neun freigelassen worden. Die Polizei hatte die Bandaufzeichnung der Überwachungskameras in ihrem Gebäude angesehen, und auf dem Material von Samstagnacht war zu sehen, wie Pugachov TC und einem unbekannten Mann dabei half, in eine Tonne zu klettern, wie er die Tonne aus dem Haus rollte und ein paar Minuten später zurückkehrte. Das bestätigte nicht nur die zugegebenermaßen seltsame Geschichte, die sie der Polizei erzählt hatte, sondern es zeigte auch, dass Mr. Pugachov noch gesund und munter gewesen war, als TC ihn verlassen hatte.
Auch in der rechten Hosentasche des Ermordeten fand man etwas, das hilfreich war: den Ersatzschlüssel zu TCs Apartment. Den hatte er nur brauchen können, wenn sie nicht zu Hause und die Tür verschlossen war. Dieses zweite Alibi genügte: Die Polizei ließ TC frei. Sie bedankten sich sogar bei ihr dafür, dass sie Zeit für sie gehabt hatte – zweifellos, dachte Will, mit einem vorformulierten Satz aus dem PR-Handbuch des NYPD.
Es war Wills Idee gewesen, sich bei Tom zu treffen. Es lag auf der Hand: Seine und TCs Wohnungen waren überwacht worden, und hier bestand zumindest die Chance, dass sie sich unbemerkt treffen könnten.
Außerdem hatte TC einen Plan – ein Bauchgefühl eher, sagte sie –, der einigen Computerverstand erforderte. Jetzt stand sie hinter Tom und beugte sich über seine Schulter, während er mit zwei Fingern auf die Tastatur einhämmerte.
»Und du bist sicher, dass der Domainname stimmt?«, fragte er.
»Ich weiß nur, was auf der Karte steht, die ich mitgenommen habe.
[email protected].«
»Okay, okay, dann versuchen wir’s damit. Buchstabierst du Mosh –, du weißt schon, nochmal für mich?«
»Zum dritten Mal: M-O-S-C-H-I-A-C-H.«
Will schaute wieder aus