Die Gerechten
nicht genug. Aus dem Augenwinkel sah er, dass sein Vater den Rabbi fast beiseite gezerrt hatte – noch ein paar Sekunden, und er würde Beth das Messer in den Leib stoßen.
Will wollte Laserauge loslassen und seinem Vater in den Arm fallen, aber er wusste, dass das nichts nützen würde: er würde erschossen werden, ehe er das Zimmer durchquert hätte. Er musste die Pistole an sich bringen. Noch einmal riss er am Arm des Mannes, um ihm die Waffe zu entwinden, aber es klappte nicht. Laserauge ließ nicht los, sondern verstärkte instinktiv seinen Griff – und drückte den Abzug.
Will hörte den Schuss und sah auf seine Hände. Er erwartete, dass sie zerschossen, zerschmettert wären. Sie troffen von Blut, aber dann sah er, dass es nicht sein eigenes war: Laserauge hatte sich selbst in den Rücken geschossen.
Jetzt hatte er freie Sicht auf seinen Vater, der sich umgedreht hatte, als er den Schuss hörte. Einen Moment lang schaute er Will in die Augen. Dann wandte er sich mit hochrotem Gesicht wieder ab und schob Freilichs leblosen Körper vollends beiseite. Er hob das Messer hoch über den Kopf, um es Beth in den Leib zu stoßen.
Mit einem Satz sprang Will auf ihn los und warf ihn zu Boden – ein Rugby-Manöver, das sein Vater selbst ihm vor zwanzig Jahren beigebracht hatte. Er riss den älteren Mann zu Boden. Beth war jetzt außer Reichweite, aber Monroe Sr. hielt das Messer noch immer in der Hand. Jetzt kniete Will über ihm und starrte ihm ins Gesicht.
»Geh weg, Will«, keuchte sein Vater; seine Halsmuskeln spannten sich. »Wir haben so wenig Zeit.« Will erschrak vor der Stärke seines Vaters; nur mit äußerster Anstrengung konnte er dessen Arme an den Boden drücken und verhindern, dass sein Vater ihn von sich stieß. Und noch immer hielt er das Messer in der Hand.
Dann spürte Will einen neuen Druck. Sein Vater versuchte ihn mit den Knien wegzudrücken, und es funktionierte. Will fühlte sich zurückgedrängt. Noch ein Tritt, Will flog herunter, und sein Vater war wieder auf den Beinen. Er tat drei zielstrebige Schritte auf Beth zu, die mit dem Rücken an der Wand stand.
Will sah, wie sein Vater ausholte, um Beth die Klinge in den Bauch zu stoßen. Aber Beth hatte sein Handgelenk mit beiden Händen gepackt und drückte es mit aller Kraft zurück. Das Messer hing einen Augenblick lang reglos in der Luft, in der Schwebe gehalten vom Gleichgewicht der Kräfte zwischen dem Verlangen eines wahren Gläubigen nach dem Himmel auf Erden und der Entschlossenheit einer Mutter, ihr ungeborenes Kind zu beschützen. Die beiden Kräfte kamen sich gleich. Will erkannte, dass er das Feuer in den Augen seiner Frau schon einmal gesehen hatte: Es war dieselbe ursprüngliche Entschlossenheit, die er in seinem Traum erlebt hatte. Auch dort hatte Beth ein Kind vor einer schrecklichen Bedrohung beschützt.
Aber dann machte sich die größere Muskelkraft des Mannes bemerkbar. Seine Hand drang vor, die Messerklinge blitzte im Bogen vor Beths Bauch. Die Spitze erreichte sie – und schnitt einen tiefen Riss in den Stoff ihres Rocks.
Adrenalin strömte plötzlich durch Wills Adern, das Adrenalin der wahrhaft Verzweifelten. Er taumelte zu dem zusammengesackten Körper von Laserauge. Er bog dem Killer die Finger auf, die noch immer die Pistole umklammerten, und riss die Waffe an sich. Während er parallel zu Beth stand, zielte er genau auf den Kopf seines Vaters und drückte ab.
Epilog
SECHS MONATE SPÄTER
Will liebte das Kuchenritual im Büro. Eine Lautsprecheransage machte die Runde in der Redaktion und verkündete, dass jemand einen Geburtstag zu feiern hatte, einen entscheidenden Jahrestag oder – in den meisten Fällen – seinen Abschied.
Diese kleinen Feiern – eine kurze Rede des Ressortleiters, eine Erwiderung des Geehrten – bereiteten Will jedes Mal ein wohliges Behagen, hauptsächlich deshalb, weil er immer noch neu genug bei der Times war, um das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer großartigen alten Institution zu genießen, und bei solchen Gelegenheiten war dieses Gefühl überwältigend.
»Abschied für Terry Walton – 16 Uhr 45 in der Lokalredaktion.« Es machte nichts, dass er immer noch kein Fan Waltons war – Spaß würde es trotzdem geben. Dabei hatte er ihn in den letzten Monaten gar nicht mehr gesehen; Walton war kaum noch im Haus. Vielleicht bereitete er sich auf den Ruhestand vor oder auf die Leitung einer Lokalzeitung irgendwo in Florida – oder was immer er sonst vorhaben mochte.
Sechs
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