Die Gerechten
er seine Nachricht auf ihren Anrufbeantworter gesprochen.) Diese ersten Monate waren in seiner Erinnerung in einen dauerhaften goldenen Glanz getaucht. Er wusste, dass das Gedächtnis solche Streiche spielen konnte, aber er war davon überzeugt, dass dieser Glanz ein reales, extern verifizierbares Phänomen gewesen war. Es war im Mai gewesen, und New York erstrahlte mitten in einem herrlichen Frühling. Die Tage leuchteten wie Bernstein, und jeder Spaziergang führte sie durch funkelnden Sonnenschein. Das war nicht die Phantasie des Verliebten. Sie hatten Fotos, die es bewiesen.
Will merkte, dass er lächelte. Zum ersten Mal, seit er die Mail bekommen hatte, dachte er an Beth und nicht daran, dass sie verschwunden war. Jetzt fiel es ihm wieder ein, und er schrak hoch wie ein Mann, der aufwacht und begreift, jawohl, das Bein ist amputiert, und es war nicht nur ein furchtbarer Traum.
Sein Vater war wieder da und sprach davon, Kontakt mit dem Internet-Provider aufzunehmen, aber Will hörte nicht zu. Er hatte genug. Sein Vater war auf dem falschen Weg: Wenn sie so etwas unternähmen, riskierten sie, dass die Polizei aufmerksam wurde. Der Internet-Provider würde sicher einen Blick auf die Mail werfen wollen und sich dann verpflichtet fühlen, die Behörden zu informieren.
»Dad, ich brauche jetzt ein bisschen Ruhe.« Behutsam bugsierte Will seinen Vater zur Tür. »Ich möchte eine Weile allein sein.«
»Das ist gut und schön, Will, aber ich bin nicht sicher, dass Ruhe ein Luxus ist, den du dir jetzt leisten kannst. Du musst jede Minute nutzen –«
Monroe Sr. brach ab. Er sah, dass sein Sohn nicht in der Stimmung war zu verhandeln. In seinem Blick lag eine stählerne Härte, die seinem Vater befahl, zu gehen, ganz gleich, wie höflich er es formulierte.
Als die Tür sich geschlossen hatte, ließ Will sich mit einem tiefen Seufzer in einen Sessel fallen und starrte auf seine Füße. Er gestattete sich nicht mehr als dreißig Sekunden; dann atmete er tief durch, richtete sich auf und wappnete sich für den nächsten Schritt. Er wollte weder ausruhen noch allein sein. Er wusste genau, was er zu tun hatte.
14
FREITAG, 15.16 UHR, BROOKLYN
Tom Fontaine war Wills erster Freund in Amerika gewesen – besser gesagt, der erste Freund, den er gefunden hatte, seit er als Erwachsener in dieses Land gekommen war. Sie hatten sich im Einschreibungsbüro der Columbia getroffen; Tom stand vor Will in der Schlange.
Wills erste Regung ihm gegenüber war Frustration gewesen. Die Schlange rückte ohnehin schon langsam genug vor, aber er sah, dass der schlaksige Typ in dem Altmännermantel eine Ewigkeit brauchen würde. Alle anderen hielten ihre Formulare schon bereit, die meisten säuberlich in Druckschrift ausgefüllt. Aber der Manteltyp war immer noch dabei, im Stehen in die einzelnen Felder zu schreiben, und zwar mit einem Füller, der leckte. Will drehte sich zu dem Mädchen hinter ihm um und zog die Brauen hoch, als wolle er sagen: »Ist das zu fassen?« Irgendwann unterhielten sie sich laut darüber, wie nervig es sei, hinter einem solchen Trottel festzustecken. Die weißen Ohrhörer in den Ohren des Trottels ermutigten sie dazu.
Schließlich wühlte der Typ ewig lange in seiner Schultasche herum, bis er einen eselsohrigen Führerschein gefunden hatte, an dem das Laminat sich löste, und dann förderte er noch einen Brief von der Universität zutage. Mit beidem gelang es ihm, den Verwaltungsmitarbeiter zu überzeugen, dass er tatsächlich Tom Fontaine hieß und berechtigt war, an der Columbia University zu studieren. Philosophie.
Dann drehte er sich um und lächelte Will an. »Sorry, ich weiß schon, wie nervig es ist, hinter dem College-Trottel festzustecken.« Will wurde rot. Anscheinend hatte Tom jedes Wort gehört. (Später fand er heraus, dass die Ohrhörer nicht mit einem Walkman oder irgendwas anderem verbunden waren. Tom fand es einfach hilfreich, sie zu tragen, denn so kam es selten vor, dass ihn irgendjemand behelligte.)
Drei Tage später trafen sie sich in einem Coffeeshop wieder. Tom saß vor einem Laptop, die Ohrhörer in den Ohren. Will klopfte ihm auf die Schulter und entschuldigte sich. Sie kamen ins Gespräch, und seitdem waren sie Freunde.
Tom war anders als alle, die er bisher kennen gelernt hatte. Offiziell gab er sich unpolitisch, aber Will betrachtete ihn als einen echten Revolutionär. Ja, er war ein totaler Computerfreak – aber er war auch ein Mann mit einer Mission. Er gehörte zu einem
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