Die Gerechten
nach einem der vielen Streits mit rotem Gesicht und heiser vor ihm stand. Einmal wachte er in der Nacht auf und hörte, wie sein Vater flehte: »Ich will doch nur tun, was richtig ist.« Will hatte sich auf Zehenspitzen aus dem Bett geschlichen, um seinen Eltern heimlich zuzuhören. Er begriff die Worte nicht, die sie gebrauchten, aber er spürte ihre Kraft. Während er hörte, wie seine britische Mutter und sein amerikanischer Vater erbittert miteinander stritten, kam dem Siebenjährigen eine Idee: seine Mutter und sein Vater konnten sich nicht lieben, weil sie mit unterschiedlichen Stimmen sprachen.
Als sie wieder nach England zurückgekehrt waren, gab ihm seine Mutter kaum eine Erklärung, warum sie nun dort lebten. Das Thema auch nur zur Sprache zu bringen, barg das Risiko, sie in eine verbitterte, geifernde Frau zu verwandeln, die er kaum wieder erkannte und die ihm nicht gefiel. Ihr Mann sei »ein anderer Mensch geworden, völlig verändert«, klagte sie. Will erinnerte sich an ein Weihnachtsfest, als seine Mutter auf eine Weise geredet hatte, die ihn erschreckt hatte; er konnte nicht viel älter als dreizehn gewesen sein. Die Details waren inzwischen verblasst, aber ein Wort klang ihm immer noch in den Ohren. Es sei alles »seine« Schuld, sagte sie immer wieder, »er« habe alles verändert. Ihrer Intonation war zu entnehmen, dass »er« ein Dritter gewesen sein musste, nicht sein Vater, aber er bekam nie heraus, um wen es sich handelte. Seine Mutter wirkte wie eine Paranoikerin, und Will war erleichtert, als das Unwetter abzog. Von sich aus brachte er es nie wieder zur Sprache.
Freunde – und übrigens auch seine Großmutter – waren schnell mit einer Analyse bei der Hand, als Will nach seiner Oxford-Zeit in die Staaten ging: Es sei eine Reaktion auf das alles. Er »entscheide« sich für seinen Vater und gegen seine Mutter, meinten manche. Er versuche die beiden zu versöhnen, wie es viele Scheidungskinder täten, und biete sich selbst als Brücke an – auch das war eine flotte Erklärung für alles. Wenn er selbst eine Theorie gebraucht hätte – was er nicht tat –, hätte er sich für die journalistische entschieden: Will Monroe Jr. ging nach Amerika, um die Wahrheit über die Story herauszufinden, die seine frühe Jugend geprägt hatte.
Das erschien ihm logisch, wenn auch nur als Theorie, denn wenn das wirklich der Sinn seiner Reise nach Amerika gewesen war, hatte er gründlich versagt. Er wusste jetzt kaum mehr als bei seiner Ankunft mit zweiundzwanzig Jahren. Er kannte seinen Vater besser, schön. Er achtete ihn; er war ein höchst erfolgreicher Jurist und Richter, und er schien ein anständiger Mann zu sein. Aber was das große Geheimnis anging, hatte Will keine neuen Erkenntnisse gewonnen. Natürlich hatten sie darüber gesprochen, ein, zwei Abende lang, im Mondschein auf der Veranda des väterlichen Sommerhauses bei Sag Harbor. Aber eine strahlende Offenbarung hatte nicht stattgefunden.
»Vielleicht ist gerade das die Offenbarung«, hatte Beth eines Abends gemeint, als er nach einem dieser Vater-Sohn-Gespräche von der Veranda ins Haus gekommen war. Sie verbrachten das lange Wochenende des Labor Day bei Wills Vater und seiner »Partnerin« Linda. Beth lag auf dem Bett und las, als er hereinkam.
»Was meinst du damit?«
»Dass es kein großes Geheimnis gibt. Das ist die Offenbarung. Dass sie zwei Leute sind, deren Ehe schief gegangen ist. Das kommt vor. Es kommt oft vor. Und mehr steckt nicht dahinter.«
»Aber was ist mit dem, was meine Mutter immer sagt? Und meine Großmutter?«
»Vielleicht brauchten sie eine große Erklärung. Vielleicht half es ihnen, zu denken, dass eine andere Frau ihn gestohlen hat …«
»Nicht unbedingt eine andere Frau«, sagte Will. »›Die andere große Leidenschaft – so haben sie es genannt. Das kann alles Mögliche gewesen sein.«
»Von mir aus. Ich will nur sagen, ich kann mir vorstellen, dass eine verstoßene Frau und ihre liebende Mutter das Bedürfnis haben könnten, eine gewichtige Erklärung für das Fortgehen des Mannes zu finden. Denn sonst wäre es eine simple Zurückweisung, oder?«
Sie war damals noch nicht seine Frau gewesen, sondern die Freundin, die er in den letzten Wochen auf der Columbia University kennen gelernt hatte. Er studierte Journalismus, sie arbeitete als Assistenzärztin am New York Presbyterian Hospital. Sie hatten sich bei einem Softball-Spiel am Memorial-Day-Wochenende im Park kennen gelernt. (Noch am selben Abend hatte
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