Die gesandte der Köingin Tess 2
obwohl er sich vorgeblich mehr für das Tau des Beiboots interessierte, das er gerade aufrollte. Ich riss den Blick von ihm los, um ihn nicht zu verraten. Es war nicht wahrscheinlich, dass er die Flucht von hier aus plante, da wir immer noch von einem halben Dutzend Männer umringt waren.
Vor mir lag eine Insel mit üppig wuchernder Vegetation, wie hundert andere, die in den warmen südlichen Gewässern von Costenopolis verstreut lagen. Wir ankerten in einer kleinen Bucht, deren Wasser vom nahenden Zwielicht schon dunkel und grau gefärbt war. Ein schmales Rauchfähnchen stieg zwischen den Baumkronen auf. Ich sah einen schmalen Strand vor den Bäumen, die bis an die Flutlinie heranreichten, und die Stellen, wo das Beiboot schon mehrmals an den Strand gezogen worden war, waren deutlich zu erkennen. Keine einzige Wolke war am Himmel zu sehen, und es war kalt; der Wind pfiff durch mein zerfetztes, ehemals prächtiges Kleid, als wäre es gar nicht da.
Ich beobachtete, wie zwei Seeleute Alex an Deck brachten. Sie schleppten ihn zwischen sich wie einen Betrunkenen. Er war bewusstlos, und das machte mir mehr Sorgen als sein vorheriges Delirium. Contessa kam hinter ihm die Treppe herauf und blinzelte in die späte Abendsonne. Rußbeschmiert und schmutzig eilte sie zu Alex, sah nach seinem Verband und versuchte, ihm die Augen zu öffnen, obwohl er schlaff zwischen den beiden Matrosen hing.
Als ich sie bei Licht sah, überkam mich eine Woge von Mitleid. Ich war verletzt und starrte vor Dreck, aber ihr zerriss es das Herz, und das zeichnete sie auf eine Weise, wie es meine körperlichen Schmerzen nicht taten. Doch obwohl ihr Gesicht alte Tränenspuren aufwies, erkannte ich eine neue Kraft an ihr. Wie sie Alex’ Hand hielt – das war eine schützende, keine ängstliche Geste. Die Piraten, vielleicht mit Ausnahme von Kapitän Rylan, bemerkten es nicht, ich aber schon. Es war diese Spannung um ihre Lippen, das leichte Blitzen in ihren Augen, als die Piraten mich wegen meines zerrissenen Kleides verhöhnten. Sie war fest entschlossen, ihn zu verteidigen, und das würde sie nun bis zu ihrem letzten Atemzug tun.
Langsam ließen meine Kopfschmerzen nach, und das Licht wurde erträglicher. Während die Piraten Bündel zu dem Mann im Beiboot hinunterwarfen, versuchte ich Duncans Blick aufzufangen. Er ging nicht darauf ein, und anscheinend behielt Kapitän Rylan ihn scharf im Auge. Als ich an seine verächtlichen Worte über mich dachte, kam mir der Gedanke, dass es vielleicht der Mühe wert wäre, die Täuschung noch glaubhafter zu machen.
Ich holte tief Luft, betete darum, dass ich vor Hunger nicht in Ohnmacht fallen würde, und trat dem Mann, der mich festhielt, vors Schienbein. Er schrie überrascht auf, ich wand mich und riss mich los.
»Du Kaulköder!«, kreischte ich und stürzte mich auf Duncan. »Du mordende Schohgrube von einem Mann. Dieb, Lügner, Betrüger! Du bist dreckiger als ein Nachttopf.«
Jemand packte mich fest an der Schulter und wirbelte mich herum. Ich warf mir das Haar aus den Augen und streckte die gefesselten Hände nach Duncan aus, als wollte ich ihm die Augen auskratzen. Duncan starrte mich angemessen erschrocken an. Dann trat Belustigung in seine dunklen Augen, und er machte ob des gutmütigen Spotts der Seeleute ein leicht verlegenes Gesicht.
»Ich bringe dich um!«, brüllte ich und wischte mir Spucke von den Lippen. »Wenn ich freikomme, töte ich dich. Hast du gehört? Ich werde dich eigenhändig umbringen!«
Irgendwann während dieser Tirade hatte ich zu weinen begonnen. Es war mir gleich, wie viele dieser Tränen echt und wie viele Schauspielerei sein mochten. Es war schwer, hungrig im düsteren Laderaum eines Schiffes zu sitzen, während jemand, den man gut kannte und dem man vertraute, draußen Bier trank und Karten spielte. Mein Herz pochte laut, und ich sank mit zitternden Muskeln im Griff des Mannes zusammen. Ich war so schwach vor Hunger, dass ich kaum mehr stehen konnte. Contessa warf mir einen kläglich-mitfühlenden Blick zu, und ich wischte mir die Augen, doch die Tränen wollten gar nicht mehr versiegen.
Kapitän Rylan gab ein befriedigt klingendes Grunzen von sich und blickte zwischen meinen frustrierten Tränen und Duncans schulterzuckender Gleichgültigkeit hin und her. »Schafft sie ins Boot«, sagte er, als langweile ihn das alles, und jemand stieß mich vorwärts.
Dies war die letzte Überfährt zur Insel, und es überraschte mich, dass wir alle ins Boot passten. Sie
Weitere Kostenlose Bücher