Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
deine Lehrzeit, die du also gut ausgenützet, nun füglich ihr Ende erreicht hat.“ Und er nannte Fahrgelegenheit und Stunde der Abreise — sie lag drei Tage über die Ankunft des Briefes hinaus.
Anna war niedergeschmettert. So vieles sollte sie auf einmal fassen, wovon sie nicht eines begreifen konnte. Jacob Cramer tot, ausgelöscht, und nie mehr würde sie diesen merkwürdigen Mann mit den warmen gütigen Augen und dem bitteren Lächeln wiedersehen, der seit ihrer Kindheit der Gast des Hauses gewesen. Im Frühjahr noch hatte er sie hier besucht mit Rudolf zusammen. Wie sie alles wieder vor sich sah: Auf der Plattform standen sie zusammen und schauten nach den Alpen hinüber. Ihr war das Herz sehr von Giulios Tod und von allerlei Zweifeln, die in ihr schafften. Davon sagte sie etwas zu den beiden. Da sah sie ihr Schwager mit einem großen Blick an: „Tod, oh, das ist noch lang nicht das Schlimmste, selbst wenn er tausend Martern in sich trüge; aber leben, leben mit toten Kräften, im Sarg liegen mit steifen Gliedern und über sich das Himmelsblau sehen und das Herzblut fühlen und nicht herauskönnen — das ist Märtyrertum; was zählen daneben ein paar Stunden am Kreuz mit der Aussicht auf himmlischen Lohn?“ Und als sie sich entsetzte ob solch unverständlicher und frevelhafter Rede, da lachte er plötzlich, bitter und hart, daß es ihr heute noch in den Ohren klang.
„Das begreift ihr wohl nicht, ihr beiden; du, Rudolf, trägst ja allbereits dein Pfarramt halb in der Tasche, und das Anneli ist heut schon ein verrühmt Maljüngferlein, und waret doch noch zwei dumme Kindlein, da ich schon, ein fertiger Mann, tatenhungrig und mit der Braut an der Hand dem Leben entgegenzog! Und nun kann ich mich immer noch mit des Herrn Landvogts von Baden Schlingeln herumplagen, ein Präzeptorlein ohn Stand und Geld, und kann zusehen, wie meine Maria einsam vergeht, gleich einer müden Rose, so ihre Blätter niederlegt, eins ums andere, dem roten Abend zu Füßen … Habt ihr nie vernommen, wie sie seufzen, solche Rosen, ganz leise, und jeder Seufzer heißt: Dahin, dahin, und der meinen Duft hätt’ trinken sollen, war fern … Und all das Elend warum? Weilen ich dem hochlöblichen Herrn Antony Klingler, euerm edeln Vetter und der Stadt ehrwürdigem Antistes einstmalen eine Wahrheit gesagt über seine dunkle und schwächliche Lehr, darinnen der Teufel und schwarzer Aberglauben mehr Macht haben denn Christus und sein helles Reich. Dafür müssen wir nun büßen, Maria und ich, vielleicht unser Leben lang.“
Wie peinlich waren Anna damals diese Worte gewesen. Aber heut ging ihr langsam ein Verständnis auf. Sie sah Maria vor sich, die stille, rätselhafte Maria mit dem müden weißen Gesicht und den roten, roten Lippen und den Augen, die so dunkel waren wie ihr Haar und in denen immer etwas Verhaltenes lag, ein Schmerz, eine Klage — oder eine Anklage? Man wußte es nicht, aber sie taten einem weh, und man wich ihnen aus.
Und dann war das andere, daß sie nun heim sollte, plötzlich, mitten aus der Arbeit heraus, und — Lukas war noch nicht zurück! Wie ein Alb drückte es ihr die Brust, und doch schämte sie sich dieser Regung. Hatte sie nicht einst davon geträumt, ein wenig Sonne und Frohmut heimzutragen in ihr ernstes Vaterhaus, und war das nun nicht die beste Gelegenheit dazu? Ungesäumt schrieb sie ihrem Vater, daß sie kommen werde, wie er es gewünscht, in dreien Tagen, und sie schrieb auch an Maria. Nur wenige Worte, aber aus dem Verstehen ihrer eigenen zarten Liebe heraus, so, daß sie ihr wohltun konnten.
Auch die andern nahmen die Nachricht mit Bestürzung auf. Herr Werner murrte dagegen, daß man ihm seine Lehrjüngerin so plötzlich entreißen wollte; aber Frau Susanna begütigte ihn: „Daß es uns leid tut, unser lieb Töchterlein wegzugeben, das, Alter, darf nun nichts heißen. Jetzo gehört Anna heim, und all ihre Kunst müßt’ ich verachten, wann sie ihre Kindespflicht darob vergessen wollte,“ und sie küßte Anna unter Tränen. Auch Sibylla weinte heiß und unaufhörlich, während sie Anna beim Packen half, die mit wehem Herzen all die Zeugen dieser schönen und reichen Berner Zeit in nüchterne Bündel zusammenlegte, und als Giulios Bild an die Reihe kam, da quoll es auch ihr heiß aus den Augen: War am Ende nicht auch diese Berner Zeit unfertig und abgerissen, mußte vielleicht alles in ihrem Leben so sein, so ohne vollendende Spitze, abgebrochen und schmerzhaft?
Herr Werner aber tröstete
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