Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Traum. Wie ganz anders war es doch gewesen damalen, als sie nach Bern ging und ihr das Trennungsweh die Brust zusammenschnürte wie mit eisernen Reifen. Heute war ihr so leicht, und die Abschiedsworte waren an ihr vorbeigegangen, wie wenn sie nicht ihr gegolten hätten, als ob sie von fernher gekommen, aus einer Welt, der sie schon nicht mehr recht angehörte. Der Mutter weiche Rede und des Vaters Mahnung und Befehl: „Sobald ich euch ruf’, kommt ihr zurück!“ und Lisabeths Bitten: „Den Johannes vergeßt mir nicht; bringt ihm das Tuch, wo ich ihm gestrickt, daß er sich warm halt’ und den Husten nicht wieder bekomme, den schlimmen …“ und Marias dunkle Worte: „Bleib stark, Schwesterlein, bleib kühl …“ alles, alles wie im Traum … Nur als Heini im letzten Moment seine von Aufregung und zerdrückten Tränen feuchten Händchen ihr um den Hals warf: „Geh nicht, Anna, bleib bei mir!“ da hatte es ihr einen Stich gegeben und hatte sie einen Augenblick lang gewußt, daß das kein Traum war, wohl aber ein Erlebnis, ein starkes und einschneidendes vielleicht. Aber nur einen Augenblick. Jetzt war ihr wieder so ruhig, so hell, so ungegenwärtig, wie sie die grauen Häuser vorbeischwanken sah und die bekannten Gesichter auftauchen und verschwinden — wie im Traum.
Als sie unter dem Stadttor durchfuhren, jauchzte Rudolf in den Klang des Posthorns hinein: „Ihr fürsichtigen Gestrengen, valete und habt ihm Sorg, dem guten alten Geist, auf daß das alte Säkulum noch ein fünfzig Jahr hocken bleib’ allhier, wir ziehn mit dem neuen!“ Und bog sich zum Fenster hinaus und winkte den grauen Türmen nach, die sich langsam in die weißen Morgendünste zurückzogen. Dann warf er sich in die Wagenecke und lachte: „Sag, ist es auch wahr, Schwesterlein, sind wir unterweges, und was wir dort zurücklassen, ist das unsere alte gute Stadt?“
Anna lächelte: „Wird schon so sein müssen, und was da kommt, ist die Welt und die Weite, ist das Große, Freie, Schöne!“
Sie wies zum Wagen hinaus: ein weites stilles Land tat sich vor ihnen auf. Die Erde war ohne Schnee; aber der Rauhreif hatte ihr ein feiertägliches Gewand übergelegt, daß sie blank und jung war. Und Bäume hängten den Glitzertand ihrer Äste in die starre Luft und hoben ihre weißen Kronen funkelnd durch die ersten Sonnenstrahlen in den stillen Himmel, der sich rein und unendlich wölbte.
Mit verschränkten Händen, eng aneinander geschmiegt, saßen die Geschwister da und schauten zu, wie die Sonnenstrahlen tiefer stiegen und allüberall auf der sauber gebreiteten Erde ein festliches Funkeln entzündeten, und fühlten, wie die Räder sich unter ihnen drehten, immerfort, immerfort, jede Drehung ein Stück weiter der glitzerigen blauen Ferne zu …
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1 frz.: Papierwust. Anm. d. Bearb.
2 Norden, die dem Mittag (Süden) entgegengesetzte Himmelsrichtung. Anm. d. Bearb.
3 städtischer Beamter; auch: für Strafsachen zuständige Militärbeamte. Anm. d. Bearb.
4 ab 1360 Zürcher Bürgermeister auf Lebenszeit; er soll die Zürcher in der Schlacht von Dättwil (1352) zum Sieg geführt haben. Anm. d. Bearb.
5 Lilie. Anm. d. Bearb.
6 verbi divini magister; Lehrer des göttlichen Wortes. Anm. d. Bearb.
7 Wer rechtschaffen bleiben will, der halte sich dem Hofe fern.
5. Die engen Mauern
Ein graugelber Oktobertag schlich in den Abend hinein. Unablässig fiel der feine frostige Regen, der den trüben Himmel auf die verweinte Stadt herunterzog, wusch den letzten Sommerstaub aus den Dachrinnen und legte gelbe Pfützen über das unebene Pflaster der Münstergasse. Anna stand am Fenster ihrer alten Malstube und sah dem Rinnsal dünner schmutziger Bächlein zu, die vom Brunnenturm her durch die steile Napfgasse herabschossen.
Trostlos, trostlos.
Sie schaute nach dem nahen Blarerturm hinüber, der sie anmaßend und unbequem anzublicken schien, wie so ein alter Seelsorger seinen einstigen Kommunikanten aufs Korn nimmt: Bist du auch noch der alte, hat dich die Welt da draußen nicht verderbet, kannst du fürder bestehen vor den scharfen Augen deines Lehrers? Anna lächelte trüb: Kannst du etwa bestehen, alter Griesgram? Hockst festgemauert zwischen hohen Häusern, über die dein Blick nicht hinausgeht, und dünkst dich etwas in deiner wohlgeborgenen Breitspurigkeit. Oh, ich habe andere gesehen, stolze tapfere Türm mit lustigen Mauerkronen, ragen in die freie Luft und schauen in die weite Welt hinaus und schützen und wehren und tun nicht wichtig wie
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