Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
eine Lehrmeisterin zu manchen Vollkommenheiten des Geistes haben wird, solche man in unserer, mehr auf das Gegenwärtige und Nützliche denn auf das Zukünftige und Erhebende gerichteten Vaterstadt umsonst suchen mag. Und wirst Du, lieber Schwager, fürderhin mich zu beneiden kein Ursach mehr haben, vielmehr ich an manchem schönen Tag in meiner Schulstube mit unterdrückten Seufzern Euer gedenken, wann Ihr — wie dies hierzuland auch beim Frauenzimmer der Brauch — auf schnellen Pferden mit den gräflichen Herrschaften durch die weiten Wälder jaget …“
Sie lasen nicht weiter die seitenlangen Empfehlungen und Grüße, die nun folgten. Sie faßten sich an den Schultern und sahen sich in die Augen: „Jungfer Hofmalerin!“ — „Herr Hofmeister!“ und umhalsten sich und lachten wie Kinder. Und wiesen zum Fenster hinaus, das grämlich unter dem Schatten der nahen Häuser lag: „Siehst die Wälder da draußen, weit, weit und grün und rauschig wie das Meer!“ Und blinzten nach Annas dunkler Kammer hinüber: „Siehst dort das fein fürstlich Gemach, glänzt vor lauter Sonnenschein und Seide, und sitzt eine Gräfin darin, die macht eine Musica so süß, so süß, das Herz muß einem schmelzen!“
Aber Anna wurde plötzlich nachdenklich: „Ob es nicht zu schön ist, Bruder, das alls! Ob ich es darf, so fort, weg von daheim und in die weite Welt, jetzt!“ Doch Rudolf lachte:
„Zu schön? Nichts ist zu schön für dich, Schwesterlein!“ und streichelte ihre goldbraunen Zöpfe. „Und wann du fort willst, eben jetzt muß es sein, solang die Lisabeth noch da ist.“ Und Anna dachte nach: Nein, jetzt war sie kaum nötig daheim. Marias Schmerz war still geworden über den neuen Pflichten, war nur selten etwas, so daran erinnerte mit sanften wehmütigen Schlägen wie ein fernes Vesperglöcklein. Lisabeths Glück aber hatte eine Helligkeit über alles gebracht, daran besonders die Mutter sich sonnte — oh, es ging ohne sie! Aber der Vater? „Wird’s der Vater erlauben?“
Rudolf zog die Brauen zusammen, daß einen Augenblick sein junges Gesicht hart wurde und unfreundlich. „Der Vater, ah, wann er uns vor dem Glück sein wollte!“
Aber Anna wehrte ihm: „Wann’s wirklich unser Glück, wird er nicht dagegen sein.“ Und dann verabredeten sie, wie man’s am besten anstellte, um ihn geneigt zu finden. Und als er nach dem Abendbrot sein Augenglas einsteckte mit einer ruhigen Gebärde, die schon schier etwas Gemütliches hatte, und mit merklichem Räuspern eben ein erbaulich lehrreiches Gespräch in die Wege zu leiten sich anschickte, da wagten sie’s.
Zuerst war es freilich ein groß ernsthaft Staunen und bedenkliches Kopfschütteln: „Was, so weit weg und in die fremde Welt? Das will mir mit nichten gefallen. Es heißt nicht umsonst und ist ein nachdenksam Wort: Exeat ab aula, qui pius esse debet! 7 “
Aber da läutete Lisabeths Stimme dazwischen: „Es kann ja nur gut sein und glückhaft, da es von Johannes kommt,“ und das war ein Argument, das wirkte, absonderlich auf die Mutter. Und wenn auch an diesem Abend unter des Amtmanns vielfältigen Bedenken die Sache zu keinem Beschluß gedieh, eines Tages war man doch so weit und war es der Amtmann selbst, der mit dem Braunfelsschen Hof in Unterhandlung trat, die Konditionen geschickt und vorteilhaft leitend, und der vom Bürgermeister und Rat und Professoren Rekommandationen erwirkte, die wohltönend und mit einer schweren Fracht rühmender Worte dem Geschwisterpaar vorauszogen, und schließlich kam auch die Stunde, da sie selber mit der Gnädigen Herren Erlaubnis Zürich verließen.
Es war an einem der ersten Tage des jungen Jahrhunderts, als die beiden an einem köstlich kalten Morgen im schwerfälligen Reisewagen über das grobe Pflaster des Niederdorfs hinrumpelten. Ein paar junge Leute hielten sich, die mäßige Schnelligkeit des mühseligen Gefährtes unschwer innehaltend, zur linken Seite des Wagens, um mit munteren Worten und kräftigem Händedrücken den Abschied von Rudolf zu verlängern, während Anna aus dem rechten Wagenfenster den freundlichen und neugierigen Gesichtern zunickte, so die jungen Reisenden allenthalben von Türen und Fenstern her grüßten.
Sie schmiegte sich in ihrem schweren Pelz wohlig zusammen. Seltsam, wie die grauen Häuser vorbeischwankten und die altbekannten Gesichter auftauchten und verschwanden, das war alles traumhaft, wie unwirklich. Auch durch den Abschied von den Ihrigen war sie gegangen wie durch einen
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