Die Geschichte eines Sommers
wäre ein Stein des Anstoßes für Sünder. Ich habe nicht gesagt, irgendwer außer mir würde an ihrer Religiosität zweifeln! Sie hat sich ein bis zwei Worte aus jedem Satz herausgepickt, den ich gesagt habe, ein Geflecht von Lügen darum herumgewebt, und das zusammen klingt dann völlig anders.«
»Für mich hört sich das nicht so sehr viel anders an. Und was Bernice’ Bekehrung angeht …«
»Es war keine Bekehrung.«
»Du hast kein Recht, so etwas zu sagen.«
Willadee verdrehte die Augen und stieß wütend Luft aus. »Okay, ich habe schon wieder vergessen: Niemand kann in ihr Herz sehen außer dir und Gott.«
Samuel warf ihr einen tadelnden Blick zu und schüttelte den Kopf.
»Das alles passt gar nicht zu dir, Willadee. Allmählich habe ich das Gefühl, dass ich dich gar nicht mehr kenne.«
Willadee starrte ihn an, ungläubig, zornig und niedergeschmettert.
»Dann hat Bernice es ja endlich geschafft«, sagte sie.
»Was geschafft?«
»Was sie schon jahrelang gewollt hat, seit dem Tag, an dem du ihr erzählt hast, du hättest dich in mich verliebt. Endlich hat sie es geschafft, sich zwischen uns zu schieben.«
Samuel sprach mit ruhiger Stimme, doch seine Worte taten ihr weh. »Was sich zwischen uns geschoben hat, Willadee, das hat nicht erst vor ein paar Minuten begonnen. Und ich meine auch nicht, dass Bernice allzu viel damit zu tun hat. Was sich zwischen uns geschoben hat, hat etwas damit zu tun, dass ich früher gewusst habe – ich meine, ohne jeden Zweifel gewusst habe –, dass du immer auf meiner Seite bist. Das Gefühl habe ich jetzt nicht mehr. Ich bemühe mich darum, es wiederzufinden, aber es ist nicht mehr da.«
Willadee bekam einen ganz trockenen Mund. Irgendwo in ihrem Inneren hatte sie gewusst, dass dieses Gespräch irgendwann stattfinden würde. Sie hatte gewusst, dass es kommen würde, und wusste, wohin es führen könnte.
»Ich bin immer auf deiner Seite«, beharrte sie.
»Das Gefühl hatte ich neulich beim Abendessen absolut nicht«, sagte er verbittert, »als die Sache mit Noble und Toy herauskam. An diesem Abend war keine Menschenseele auf meiner Seite.«
»Aber ich habe mich dafür entschuldigt. Es war nicht richtig von mir. Es tut mir leid.« Am liebsten hätte sie die Worte herausgeschrien.
Samuel sprach weiter, als hätte sie nichts gesagt. Alles, was sich seit Jahren in ihm aufgestaut hatte, brach plötzlich aus ihm heraus.
»Die ganze Zeit bin ich wie ein großer, dummer Ochse herumgelaufen, während alle anderen in der Familie wussten, was los war, und zusammengearbeitet haben, damit ich nichts mitbekomme. Hast du eine Ahnung, wie dämlich ich mich gefühlt habe?«
»Ich hab doch gesagt, dass es mir leidtut.« Aber es tat ihr nicht nur leid. Sie hatte auch Angst.
»Und was meinst du, was du den Kindern damit beigebracht hast? Wenn’s dem Alten nicht passt, braucht er ja nichts davon mitzubekommen? « Er hatte noch nie von sich als »der Alte« gesprochen. »Wenn die Wahrheit schmerzt, warum soll man sie dann aussprechen?«
»Es tut mir leid, es tut mir so leid«, sagte sie und fing an zu weinen.
Sie waren zu Hause angekommen, und Samuel bog in die Zufahrt ein. Sie konnten die Kinder in der Nähe der Scheune sehen, wo sie Lady durch den Zaun hindurch fütterten. Samuel saß eine Minute lang schweigend da und starrte erst auf seine Kinder, dann auf Callas Schild »Moses«.
»Mir hat dieser Ausspruch immer gefallen, dass ein Moses niemals lügt«, sagte er. »Aber um ganz ehrlich zu sein, Willadee, wenn ich ihn jetzt höre, dann macht er mich beinah krank. Und weißt du, warum? Weil er in Wirklichkeit besagt, dass ein Moses zwar nicht lügt, aber auch nicht unbedingt die Wahrheit sagt.«
33
Sie hatten sich noch nie gestritten. Sie hatten noch nie – wie das andere Leute nannten – eine ernsthafte Meinungsverschiedenheit gehabt. Seit dem Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten, hatten sie nur pure Freude aneinander gehabt, waren völlig vorbehaltlos miteinander umgegangen, hatten immer nur das Beste vom anderen erwartet und nie etwas anderes geglaubt. Betrachtete Willadee andere Ehen, die schlechten wie die guten, dann hatten ihr diese Leute immer leidgetan, weil sie nicht wussten, einfach keine Ahnung hatten, wie Liebe sein konnte, wenn alles so stimmte wie bei ihnen.
Doch jetzt stimmte irgendwie gar nichts mehr, und sie hatte keine Ahnung, wie sie das je wieder ändern konnte.
Samuel kam gar nicht erst ins Haus, sondern ging sofort in die Scheune, wo er an
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