Die Geschichte von Zoe und Will
danach.
Will vergräbt seine Finger in meinem Haar und küsst meinen Scheitel. Er weicht meiner Frage aus, das ist nicht zu übersehen. Aber das ist in Ordnung. Wir haben alle unser eigenes Tempo, um mit Dingen umzugehen. Vielleicht wird Will noch Jahre benötigen, um damit fertigzuwerden, dass er verlassen wurde. Vielleicht auch sein ganzes Leben. Ich werde bei ihm bleiben, egal, wie lange es dauert, und beweisen, dass Menschen nicht immer verschwinden, einen nicht immer gleich abschreiben.
»Gibt es jemanden, den du anrufen willst? Jemanden von zu Hause?« Er zieht sein Telefon aus der Tasche und reicht es mir. »Ist ein Prepaid-Handy. Ich hab’s mit genügend Minuten aufgeladen, bevor wir abgehauen sind. Du kannst jeden anrufen, den du willst.«
»Wen sollte ich schon anrufen wollen?«
»Keine Ahnung. Lindsay?«
Meine beste Freundin Lindsay und ich haben uns auf der Mädchentoilette der Schule kennengelernt, da waren wir zwölf. Ich hatte mich in einer Kabine versteckt und mir die Hände mit nassen Papierhandtüchern aufgescheuert, als sie hereinkam. Eine Welle heiß glühender, roter Scham überflutete mich. Ich biss mir auf die Lippe, unterdrückte jedwedes Geräusch, bis ich dachte, sie wäre verschwunden. Aber das war sie nicht. Sie hat bemerkt, dass jemand dort war, hat den Atem angehalten und darauf gewartet, dass ich wieder wimmerte, um dann an meiner Tür zu klopfen. Als ich nicht antwortete, legte sie sich auf den schmutzigen Boden und krabbelte unter der Trennwand hindurch, mit einem entschlossenen Zug um den Mund, die Augen jedoch weich und mitfühlend. Jedes Mal, wenn Lindsay etwas rettete, machte sie dieses Gesicht: bei einem kleinen Vogel, der aus dem Nest gefallen, einem Hund, der vom Auto angefahren worden war, den Pflanzen, die ihre Mom wegen ihres fehlenden grünen Daumens auf dem Gewissen hatte.
Sie lieh mir ihren Rock, obwohl ihr Hemd nicht lang genug war, um die obere Naht ihrer Leggings zu bedecken. Gemeinsam sind wir zur Schulkrankenschwester gegangen, und Lin hat die ganze Zeit im Krankenzimmer geplappert, während ich mich zu sehr schämte, um auch nur ein Wort herauszubekommen. In jenem Jahr wurde sie das Mädchen in meinem Leben, das über Dinge Bescheid wusste, von denen ein Mädchen ohne eine Mutter nicht den leisesten Schimmer hatte, zum Beispiel über die Tage oder BHs. In der Schule haben wir zusammen zu Mittag gegessen und in der Bibliothek zusammen gelernt, aber ich habe sie nie zu mir nach Hause eingeladen und konnte meinen Dad nur sehr selten überreden, dass ich zu ihr durfte. Manchmal tischte ich ihm Geschichten über Lerngruppen nach der Schule oder Brain-Bowl-Wettbewerbe auf, die es überhaupt nicht gab, nur damit wir einen Nachmittag hatten, an dem wir so tun konnten, als hätten wir eine Freundschaft wie die im Fernsehen, wo Mädchen über Jungs kichern, Filme schauen, Popcorn essen und sich die Nägel lackieren. Anschließend, bevor ich nach Hause ging, habe ich mir immer den Nagellack entfernt und den Geruch nach Popcorn mit Pfefferminzzahnpasta weggeschrubbt.
»Was sollte ich ihr sagen?«
»Hast du ihr erzählt, dass du abhaust?«
»Das habe ich niemandem erzählt.«
»Könnte sein, dass sie sich Sorgen macht, weil du nicht in der Schule warst.«
Wahrscheinlich hat sie sich gefragt, was er mir diesmal angetan hat, da ich normalerweise so tue, als wäre das, was er mir antut, nicht der Rede wert, zumindest nicht so schlimm, dass es mich von dem einzigen Ort fernhält, an dem ich mich sicher fühlte. Bisher habe ich keinen einzigen Tag Schule versäumt.
»Okay, ich rufe sie an.« Ich nehme das Handy und wähle Lindsays Nummer. Es ist spät genug, dass sie von der Theatergruppe zu Hause sein muss, den einzigen Stunden des Schultags, die sie mag.
Es klingelt zwei Mal. Ich bemerke überhaupt nicht, dass ich wie erstarrt bin, nicht blinzle, meine Lungen sich nicht füllen, bis ich Lindsays Stimme am anderen Ende höre und sich meine Muskeln entspannen.
»Gott sei Dank, du hast abgehoben.«
»Zoe?«
»Ja, ich bin’s.«
Lindsay sagt eine Minute kein Wort, aber am anderen Ende höre ich ein Rascheln und das Poltern von Schritten, die eine Treppe hinaufhasten.
»Lin?«
»Schshh!«
Eine weitere Minute verstreicht, und ich lausche gedämpften Stimmen. Lindsay erklärt jemandem, ich sei Gabe aus der Schule, der wegen der Hausaufgaben anruft. Ich muss ihrer Schwester Blaire zuhören, länger als mir lieb ist, wie sie Lindsay in ihrer schrillen Stimme damit
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