Die Gesellschaft des Abendsterns
Stille Kiste«, sagte Oma. »Sie ist viel robuster als jede andere Zelle im ganzen Kerker. Sie beherbergt immer nur einen einzelnen Gefangenen, und die einzige
Möglichkeit, den Gefangenen herauszuholen, besteht darin, einen anderen hineinzuschicken.«
»Wer ist da drin?«, fragte Seth.
»Das wissen wir nicht«, antwortete Oma. »Die Stille Kiste wurde hierher gebracht, als Fabelheim gegründet wurde, und sie war bereits besetzt. Jeder Verwalter schärft seinem Nachfolger ein, die Kiste niemals zu öffnen. Also lassen wir die Finger davon.«
Oma ging weiter den Flur entlang. Kendra blieb in ihrer Nähe, während Seth noch einen Moment vor der Stillen Kiste verweilte. Dann eilte er ihnen nach. Vor der letzten Biegung, die das Quadrat vervollständigen würde, blieb Oma scheinbar zufällig vor einer Zellentür stehen. »Seth, du hast gesagt, du wolltest einen Gefangenen sehen. Hier ist der Kobold, der eurem Großvater diese Verletzungen beigebracht hat.«
Sie leuchtete mit der Taschenlampe durch das kleine Fenster in der Tür. Kendra und Seth drängten sich heran, um etwas sehen zu können. Der Kobold in der Zelle starrte sie mit kalten Augen und gerunzelter Stirn an. Er war fast so groß wie Dale. Ein kurzes Paar Fühler ragte aus seiner Stirn. Ledrige Haut umhüllte lange, muskulöse Gliedmaßen. Kendra hatte viele Kobolde gesehen. Was für ein Pech, dass dieser eine nicht wie all die anderen wieder in eine Fee zurückverwandelt worden war.
»Nur zu, leuchte nur mit deinem jämmerlichen Licht! Du hast ja keine Ahnung von dem Verhängnis, das sich über euch zusammenbraut«, knurrte der Kobold.
»Wovon sprichst du?«, fragte Kendra. Oma und Seth sahen sie verwirrt an. Der Kobold musterte sie durchdringend. »Was?«, fragte Kendra.
»Kein Licht dieser Welt kann die kommende Dunkelheit abwehren«, fuhr der Kobold fort, ohne Kendra aus den Augen zu lassen.
»Welche Dunkelheit?«, fragte Kendra.
Der Kobold schluckte kurz. Er sah überrascht aus.
»Kannst du seine Sprache verstehen?«, fragte Oma erstaunt.
»Du nicht?«, fragte Kendra zurück. »Er spricht doch ganz normal.«
Oma legte nachdenklich eine Hand ans Kinn. »Nein, er spricht Koblisch, die Sprache der Kobolde und Goblins.«
»Verstehst du mich, Stinkgesicht?«, fragte der Kobold.
»Soll das ein Witz sein?«, fragte Kendra zurück.
»Zumindest verstehe ich dich«, erwiderte der Kobold.
»Ich habe Englisch gesprochen«, erklärte Kendra.
»Ja«, bestätigte Oma.
»Nein«, widersprach der Kobold. »Koblisch.«
»Er sagt, ich spreche Koblisch«, meinte Kendra.
»Tust du auch«, sagte der Kobold.
»Er scheint es zumindest so zu hören«, bemerkte Oma.
»Verstehst du ihn nicht?«, fragte Kendra Seth.
»Du weißt doch, wie Kobolde klingen«, antwortete Seth. »Keine Worte, nur Knurren und Schnauben.«
»Was sagen sie?«, wollte der Kobold wissen. »Richte ihnen aus, dass ich ihre Eingeweide auf einem Spieß braten werde.«
»Er redet nur ekelhaftes Zeug«, übermittelte Kendra.
»Sag jetzt lieber nichts mehr«, befahl Oma. »Sehen wir zu, dass wir dich von hier wegbringen.«
Oma scheuchte sie den Flur entlang, und der Kobold rief ihnen hinterher: »Kendra, du hast nicht mehr lange zu leben. Denk an meine Worte, wenn du heute Nacht versuchst, einzuschlafen. Noch bevor du weißt, wie dir geschieht, bin ich hier raus und tanze auf deinem Grab! Auf euer aller Gräbern!«
Kendra fuhr herum. »Nun, du wirst allein tanzen müssen,
du hässliche Warze! Alle anderen von deiner Art sind nämlich in Feen zurückverwandelt worden, und sie sind schön und glücklich. Und du bist immer noch ein missgestaltes Monster! Du solltest hören, wie sie über dich lachen! Viel Spaß noch beim Runterschlingen deiner Pampe!«
Schweigen. Und dann das Geräusch von etwas, das gegen die Zellentür krachte, gefolgt von einem kehligen Fauchen. Knotige Finger zwängten sich zwischen den Gitterstäben des kleinen Fensters in der Tür hindurch. »Komm weiter«, sagte Oma und zog an Kendras Ärmel. »Er versucht nur, dich aus der Fassung zu bringen.«
»Wie ist es möglich, dass ich ihn verstehe?«, fragte Kendra. »Die Feen?«
»Das muss es wohl sein«, antwortete Oma, ohne ihren Schritt zu verlangsamen. »Morgen werden wir mehr Antworten haben. Euer Großvater konnte heute Morgen den Sphinx kontaktieren und hat für morgen Nachmittag ein Treffen vereinbart.«
»Bin ich auch dabei?«, wollte Seth wissen.
»Ihr beide«, antwortete Oma. »Aber außer uns und eurem
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