Die Gewandschneiderin (German Edition)
der Berater des Kaisers hätte sie in den tiefsten Kerker geworfen ...
“Was bildest du dir ein? Woher wills t du wissen, was ich denke? Außerdem reicht mir, was ich sehe. Der Arzt sagt, dein Meister ist zu krank zum Arbeiten. Es gibt aber auf der Stelle etwas zu tun. Komm mit!”
Das war keine Frage, das war ein Befehl. In Anna regte sich der vertraute Widerspruchsgeist, der ihr schon so viel Ärger bereitet hatte, doch sie schaffte es, ihren Einwand freundlich vorzubringen.
“Ich warte hier auf das Ergebnis der Untersuchung, und ich habe auch kein Nähzeug dabei …”
Petrus de Vinea wandte sich um und musterte sie mit finsterer Miene. “Hochmütig und faul. Manchmal verstehe ich ihn wirklich nicht.” De Vinea seufzte. Dann beugte er sich so weit vor, dass sie die grauen Haare seines Bartes hätte zählen können.
“Pack dich und komm, sonst setze ich deinen mageren Arsch schneller vor die Tore der Stadt, als du einen Faden abreißt. Ist das deutlich genug?”, zischte er.
Besaß er so viel Macht? Anna schluckte, ihr Hals war wie zugeschnürt, sie brachte keinen Ton heraus, also nickte sie nur und folgte ihm.
Er hatte sie in den Thronsaal geführt. Anna hatte sich den ganzen Weg über gefragt, warum man die Arbeit nicht Zahmeena übertragen hatte. Erst als sie vor dem langen Riss in dem kostbaren roten Polsterstoff stand, wurde ihr klar, warum man sie geholt hatte. Der Thron stand schwer und still vor der gekalkten Mauer mit den Bannern. Sicher war er nur mit Mühe wegzurücken. Und die schadhafte Stelle im Ziersaum des Sitzes, zu der de Vinea sie geführt hatte, befand sich ganz unten in der Ecke, dort, wo der Berater des Kaisers mit seinem Stab aufzustampfen pflegte, wenn er die Menge zur Ruhe mahnte. Der Schreck über den unerwarteten Einsatz und de Vineas Drohung ließ nach, und Anna verbiss sich das Lachen. Zahmeena hätte sich vielleicht noch in die Ecke hineingezwängt - aber herausgekommen wäre sie nicht mehr.
“Das Nähzeug?” , fragte sie. De Vinea reichte es ihr. Draußen schlug die Glocke.
“Der Saal wird bald gebraucht. Flick den Riss so schnell wie möglich. Hauptsache, die Naht fällt nicht auf. In nächster Zeit wird ohnehin ein neuer Saum angebracht, wir warten nur auf den richtigen Stoff. Der Tuchhändler aus Köln müsste jeden Tag eintreffen.”
Die Schere fiel Anna aus der Hand und klapperte zu Boden.
De Vinea schüttelte ärgerlich den Kopf und schnalzte mit der Zunge. “Was ist, kannst du nicht einmal einen Riss nähen?”
“Doch, es ist nu r so eng hier. Entschuldigung.”
Anna griff nach der Schere und machte sich rasch wieder an die Arbeit. Ein Tuchhändler aus Köln? Sicher hatte man auch da nach dem besten verlangt, und wenn Anna nicht alles täuschte … Sie musste Gewissheit haben.
“Hat denn ein Tuchhändler aus Deutschland solch edle Stoffe vorrätig?”
De Vinea sah sie an, die Arme verschränkt, aber er antwortete. “Er soll die größte Auswahl in Deutschland haben, kann angeblich alles besorgen. Hast du’s endlich?”
Anna schnitt den letzten Faden durch. “Fertig” , flüsterte sie.
Der Garten lag noch da, wie Anna ihn verlassen hatte. Mit hämmerndem Herzen saß sie allein auf der äußersten Kante der Bank und wartete auf Nachricht aus Spierls Kammer. Endlich schwang die Tür zum Haus auf, und M´Ba betrat den Garten. Anna suchte seinen Blick, aber es fiel ihr schwer, in seinem dunklen Gesicht zu lesen.
Sein erster Satz beantwortete ihre stumme Frage. “Dein Spierl nicht gut. Kommen herein, gehen Arzt.”
Schon beim Eintreten schien sie der Geruch nach Krankheit aus jedem Winkel der Kammer anzufallen, und sie rang nach Luft. Eine ungerührt dreinblickende Magd trug eine Schale mit Blut an ihr vorbei, als wäre sie auf dem Weg zum Wursten. Meister Spierl lag zitternd auf den feuchten Laken, die Beine angezogen und die Arme um die dürren Knie geschlungen.
“H mhh.” Der Heiler stand am offenen Fenster – war er solche Gerüche nicht gewohnt?
Anna wandte sich dem Arzt zu.
“Das wird schon wieder. Ich habe ihn zur Ader gelassen. Gib ihm einfach von der Medizin.”
Er nickte zum Tisch hinüber - eine neue braune Flasche mit dickem Stöpsel verströmte Zuversicht.
“Danke.” Anna knickste, so erleichtert war sie.
Der Arzt suchte hastig seine Utensilien zusammen und eilte aus der Tür. Meister Spierl stöhnte. M´Ba warf Anna einen mitleidigen Blick zu und wandte sich zum Gehen.
Erst de Vinea, dann die Ankündigung des
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