Die Gewürzhändlerin
Inhaltsübersicht]
16. Kapitel
S
ie stand im Kontor, eine Öllampe in der Hand. Es war finster um sie herum – war es Nacht? Warum war sie mitten in der Nacht in Martins Haus? Sie suchte etwas. Doch was suchte sie?
In der rechten Hand hielt sie einen großen Schlüsselbund. Nacheinander schloss sie alle Truhen an den Wänden auf und durchwühlte sie. Wenn sie doch nur wüsste, wonach sie suchte! Die Zeit zerrann ihr zwischen den Fingern.
Jemand brauchte ihre Hilfe, doch wer? Martin? War sie deshalb in seinem Kontor? Sie half ihm doch bereits, indem sie als seine Gehilfin arbeitete.
Panik stieg in ihr auf. Sie musste etwas tun, konnte sich aber nicht erinnern, was oder weshalb. Ein Geräusch hinter ihr ließ sie herumfahren.
Er stand vor ihr, streckte die Arme nach ihr aus.
Plötzlich fand sie sich erneut zwischen ihm und dem harten Türstock wieder, spürte seine Lippen auf den ihren. In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen. Nebelschwaden zogen auf und hüllten alles in undurchdringliches Weißgrau.
Im nächsten Moment stand sie in der einfachen Wohnstube ihres Elternhauses in Blasweiler. An dem klobigen Eichentisch, zu dessen beiden Seiten schwere, schnörkellose Sitzbänke standen, saßen ihre Eltern und ihre kleine Schwester Trinchen. Doch das konnte nicht sein! Sie alle waren vor Jahren an der Pest gestorben. Nur Luzia und Anton hatten überlebt. Wie konnte es sein, dass sie nun alle so einträchtig hier beieinandersaßen?
«Du träumst», sagte ihre Mutter Traud mit einem sanften Lächeln, so als habe sie ihre Gedanken gelesen. «Mein liebes Kind, du träumst.»
«Ihr seid hier! Ihr alle …»
«Wir sind in deinem Traum, mein Kind», wiederholte Traud. «Doch nicht mehr lange, denn bald wirst du erwachen. Du musst dich entscheiden, Luzia.»
«Entscheiden?»
Die Mutter reichte ihr lächelnd das Kruzifix, so wie sie es schon einmal getan hatte, als Luzia von daheim fortgegangen war. «Dein Glücksbringer. Nie hätten wir gedacht, dass dies eine so mächtige Reliquie ist. Sie dient nur denjenigen, die im Herrn wandeln, Luzia. Jeden anderen wird sie vernichten.»
Erschrocken umfasste Luzia das Kreuz. «Was weißt du darüber, Mutter?»
Doch Traud schwieg.
Luzia versuchte es erneut: «Weshalb bin ich hier, Mutter? Vater?» Mit fragendem Blick wandte sie sich an Hein Bongert, der bislang schweigend am Tisch gesessen hatte. Nun hob er den Kopf und zwinkerte ihr schelmisch zu. Der vertraute Anblick gab ihr einen schmerzhaften Stich ins Herz. «Ich vermisse euch so», bekannte sie mit zitternder Stimme. «Mein Leben ist jetzt so anders, so fern von euch.»
«Besser», sagte Hein bestimmt. «Es ist jetzt besser. Es übertrifft alles, was wir uns je für dich hätten vorstellen können. Wir sind stolz auf dich, was du auch tust. Du wirst uns niemals fern sein.»
«Ich muss meine Herkunft verleugnen», begehrte Luzia auf. «Das ist nicht recht euch gegenüber.»
«Du musst tun, was für dich das Beste ist, Luzia», erklärte Trinchen mit überraschend erwachsener, weiser Stimme.
Traud nickte dazu. «Entscheide dich, mein Kind.»
Ehe Luzia noch etwas sagen konnte, hüllte der dichte Nebel sie wieder ein. «Nein, Mutter, Vater! Geht nicht wieder fort!», rief sie verzweifelt, doch die dichten Schwaden um sie herum schluckten jeden Laut.
Tränen der Trauer und Verzweiflung stiegen ihr in die Augen. Sie war jetzt vollkommen allein in einem kalten, leeren Raum. Doch kalt blieb es nicht: Hitze und Rauch quollen durch die Fenster herein, das Prasseln eines Feuers drang an ihre Ohren. Entsetzt erkannte sie, dass sie sich wieder im Kontor befand – und um sie herum stand das Haus lichterloh in Flammen. Der beißende Qualm nahm ihr den Atem. Sie hörte eine Glocke Sturm läuten, das Gebrüll der Brandhelfer, die versuchten, das Feuer mit in Eimern herbeigeschlepptem Wasser zu löschen. Sie konnte sich nicht vom Fleck rühren, obgleich die Flammen bereits um ihren Kleidersaum herumzüngelten.
Dann stand sie plötzlich am Eingang des Hauses. Es wirkte so fremd auf sie, als ob sie noch niemals hier gewesen sei. Erst nach und nach wurde ihr klar, dass dies Martins Elternhaus war. Dasjenige, das bei dem Brand vor vielen Jahren zerstört worden war. Martins Vater hatte auf den Ruinen ein neues Haus gebaut.
Doch weshalb war sie hier? Sie träumte, das wusste sie ganz genau. Noch niemals hatte ein Traum sie so weit in die Vergangenheit geführt. In eine Vergangenheit, die nicht die ihre war. Oder doch? Der Schwur
Weitere Kostenlose Bücher