Die Gewürzhändlerin
Elisabeth benötigte ihre Gesellschaft nicht, war doch die Familie Hole zu Besuch sowie der Ratsherr von Ders mit seiner Gemahlin Carissima. Johann von Manten legte Wert darauf, mit den Ratsmitgliedern freundschaftliche Bande zu knüpfen, denn er wollte so bald wie möglich als Neubürger in Koblenz aufgenommen werden.
In dieser hochwohlgeborenen Runde hatte eine Leibmagd selbstverständlich nichts verloren. Luzia war nicht böse darüber. Sie hatte beim Auftragen der Speisen geholfen und sich dann in die Küche zurückgezogen. Die Ratsherren wirkten hochfahrend und einschüchternd. Der alte Mann jedoch, der Schultheiß, war Luzia ganz besonders unheimlich. Sein von Falten durchzogenes Gesicht wirkte ernst und ein wenig grimmig. Seine stechend grauen Augen hatten jede Person im Raum – Luzia eingeschlossen – scharf gemustert und, da war sie sich sicher, einer genauen Beurteilung unterzogen. Ihm schien nichts zu entgehen.
Furchteinflößend, das war er – musste er vermutlich sein, wenn man bedachte, welch hohes und wichtiges Amt er bekleidete. Selbst das Kruzifix war in seiner Gegenwart vollkommen verstummt.
Luzia zog den gepolsterten Hocker unter dem kleinen Tisch neben dem Bett hervor und setzte sich darauf. Die Kette mit dem Kruzifix zog sie über den Kopf und betrachtete das Schmuckstück dann eine Weile nachdenklich. Nach wie vor spürte sie ein leichtes Pulsieren. Was es wohl zu bedeuten hatte? Die einzige ihr bekannte Möglichkeit, das herauszufinden, bestand darin, das silberne Kreuz nachts unter ihr Kopfkissen zu legen und abzuwarten, ob sie einen seherischen Traum haben würde. Ein bisschen mulmig war ihr jedes Mal, wenn sie das tat, aber geschadet hatte es ihr bisher noch nie.
Plötzlich fasste sie den Entschluss, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Sie beugte sich vor, hob ihr Kissen an und verbarg das Schmuckstück sorgsam darunter. Anschließend griff sie nach der Verschnürung ihres Kleides und nestelte daran herum, hielt dann aber inne. Sie war zwar erschöpft, fühlte sich jedoch noch zu unruhig, um sich jetzt schon schlafen zu legen. Womit sollte sie sich ablenken? Sollte sie eine der Handarbeiten aus Elisabeths Kammer holen? Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Es hatte fast den gesamten Tag über geregnet, noch immer war der Himmel wolkenverhangen. Viel Tageslicht fiel nicht mehr in ihre Kammer, der klägliche Rest würde in spätestens einer halben Stunde der nächtlichen Dunkelheit weichen. Keine guten Voraussetzungen für feine Näharbeiten oder Stickereien. Das Licht ihrer Öllampe war nicht hell genug. Sie stand auf und ging zu der Kleidertruhe am Fußende ihres Bettes. Zum Lesen würde das Licht ausreichen, überlegte sie. Schon lange hatte sie nicht mehr in ihre Schätze hineingeschaut. Sie klappte den Deckel der Truhe hoch, schob die ordentlich gefalteten Kleider beiseite und zog die beiden Bücher hervor, die sie einst auf dem Jahrmarkt in Ahrweiler gekauft hatte, obgleich sowohl Elisabeth als auch Bruder Georg ihr davon abgeraten hatten.
Das größere, in einfaches Leder gebundene Buch enthielt eine in die deutsche Sprache übersetzte Zusammenfassung verschiedener Schriften über Mathematik, wie die Arithmetik nach Boëthius, ein Werk Euklids über die Geometrie und Auszüge aus den Werken Bradwardines und Ockhams.
Das dünnere Büchlein hieß
Liber Abbaci
und befasste sich ebenfalls mit der Kunst des Rechnens. Inzwischen besaß Luzia sogar einen Abakus, ein Rechenbrett, wie es in dem gelehrten Büchlein beschrieben stand. Bruder Georg hatte ihr den Abakus von einem Händler in Trier mitgebracht; seitdem hütete sie ihn wie einen Schatz zusammen mit den Büchern.
Luzia nahm Bücher und Rechenbrett mit zu ihrem Tisch und setzte sich wieder. Sie hatte schon seit Monaten weder gelesen noch versucht, die teilweise komplizierten Rechenoperationen mit Hilfe der Rechensteine des Abakus nachzuvollziehen. Bruder Georg war sehr erstaunt gewesen, als er bemerkt hatte, dass Luzia die gelehrten Schriften mit Freude las und noch dazu verstand. Sie wäre eine Laune der Natur, hatte er behauptet und dabei den Kopf geschüttelt. Dennoch hatte er ihr das Rechenbrett mitgebracht, denn, so hatte er gesagt, Gelehrsamkeit sei stets zu begrüßen, auch wenn sie in Luzias Fall offensichtlich verschwendet sei. Wozu brauchte eine Leibmagd, noch dazu eine so niedrig geborene wie sie, Wissen über Mathematik? Den meisten Menschen reichte es, wenn sie die Finger an ihren Händen zu zählen wussten und
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