Die Gewürzhändlerin
bewundernswert auf ihre ganz eigene Weise.
Handelte sie also, wie alle Welt es von ihr zu erwarten schien? Aber was würde das über sie aussagen? Würde man sie für klug halten? Für gerissen gar? Für habgierig oder hinterlistig? Nur auf ihren Vorteil bedacht? Machte es überhaupt einen Unterschied, was die Leute von ihr dachten? Sie – Luzia – wusste es besser. Wenn sie sich für Martin entschied, wäre es nichts von alledem. Keine Klugheit, kein Streben nach Wohlstand. Nur der Wunsch, ihm nahe zu sein.
Kurz schloss Luzia die Augen und spürte dem ziehenden Gefühl nach, das ihr Herz durchfloss. Schließlich wandte sie sich vom Fenster ab und setzte sich an das winzige Schreibpult. Obwohl es bereits nach Mitternacht war, konnte sie unmöglich schlafen. Morgen würden sie den Schultheißen aufsuchen und ihm die Beweise darlegen. Zwar führte der Vogt das Blutgericht in Koblenz, doch arbeitete ihm der Schultheiß in derartigen Angelegenheiten zu und bereitete für ihn die Gerichtstage vor. Luzia betete, dass sie recht behalten und man bei Thals Waren auch ihre Öle und das Sandelholz finden würde. Falls nicht … Nein, sie durfte nicht daran denken, was andernfalls mit Martin geschehen würde.
Um sich abzulenken, holte sie sich das schwere, in Leder gebundene Buch mit Heiligengeschichten aus ihrer Truhe. Seit sie es am Ende des Jahrmarktes bei dem Buchbinder erstanden hatte, war sie kaum einmal dazu gekommen, einen längeren Blick hineinzuwerfen. Nun strich sie andächtig über den Einband, schlug ihn auf und betrachtete bewundernd die Illuminierungen, die selbst im Licht der kleinen Öllampe leuchteten, als seien sie lebendig.
Langsam blätterte sie, las hier und da einen Abschnitt, bis ihre Augen an einem Satz hängenblieben, der unvermittelt all ihre Sinne alarmierte. Rasch blätterte sie eine Seite zurück, um die Geschichte des Zöllners Zachäus von Anfang an zu lesen. Sie kannte sie aus den Predigten der Pfarrer während des Gottesdienstes. Doch was sie hier las, war vollkommen neu für sie. Eine Gänsehaut kroch ihr Rückgrat hinauf; unvermittelt griff sie nach dem silbernen Kruzifix, das nun wieder mit seiner Kette verbunden war. Sie spürte, wie es in ihrer Hand pulsierte. Zuerst konnte sie es kaum glauben. Doch nachdem sie die Geschichte zum zweiten Mal gelesen hatte, wusste sie, dass sie endlich auf das gestoßen war, was sie sich seit langem wünschte – die Erklärung, woher die wertvolle Reliquie stammte.
Wie zornig und verletzt war sie gewesen, als Johann ihr die Kette wiedergegeben hatte. Warum wollte Martin sie nicht behalten? Inzwischen ahnte sie, dass es eine ganz einfache Erklärung gab: Wenn Martin sie behielt und der Prozess zu seinen Ungunsten ausginge, würde man ihm vor Vollstreckung des Urteils alles Hab und Gut nehmen, das er noch bei sich trug. Dann wäre die Kette vermutlich für alle Zeit verloren, denn die Schöffen würden sie lediglich als wertvolles Schmuckstück ansehen. Sie würden sie dem städtischen Schatzmeister übergeben oder – schlimmer noch – versuchen, sie zu veräußern, um die Ratskasse mit Münzen zu füllen. Es war fraglich, ob Luzia oder irgendjemand aus Martins oder Elisabeths Familie die Möglichkeit bekäme, die Kette für sich zu beanspruchen.
Doch das Band zwischen ihnen war durch Martins Verzicht auf die Kette nicht durchtrennt. Der Schwur bestand weiterhin, und Luzia konnte nur hoffen, dass alles gut ausgehen würde.
* * *
Nervös trat Luzia von einem Fuß auf den anderen, während sie vor dem Rathaus wartete, und nestelte unentwegt an dem Rechnungsbuch und der Urkunde herum, die sie mitgebracht hatte. Elisabeth neben ihr stand zwar äußerlich ruhig da, doch Luzia erkannte an ihren ineinander verkrampften Händen, dass die Freundin nicht weniger aufgeregt war als sie. Johann war hineingegangen, um beim Schultheißen vorzusprechen, der heute im Rathaus für den Vogt die bevorstehenden Gerichtstage vorbereitete.
Als sich schließlich die Tür des Rathauses öffnete und der Gerichtsschreiber Marsilius Grelle Luzia bedeutete einzutreten, wechselte sie einen kurzen Blick mit Elisabeth, die ihr daraufhin ermutigend zunickte.
Luzia straffte die Schultern und folgte dem Schreiber in den großen Ratssaal, in dem lautes Stimmengewirr herrschte. Die vierzehn Schöffen waren heute vollzählig zu ihrer Sitzung erschienen. Der Gerichtsschreiber ließ sich wieder auf seinem Platz neben des Schultheißen Pult nieder und winkte Luzia näherzutreten.
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