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Die Giftmeisterin

Titel: Die Giftmeisterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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Kinn, deutliche, fast kantige Konturen - kurz gesagt, man sah ihm
an, dass man ihn nicht unterschätzen durfte. Glücklicherweise - ich sage das als Frau - wurde diese Entschlossenheit von einem spitzbübischen Lächeln gemildert sowie von vorwitzig auf der Stirn tanzenden braunen Locken.
    All das hatte sich in den wenigen Tagen seit Hugos Tod verändert. Natürlich war Grifos Aussehen dasselbe, doch die Wirkung war eine völlig andere geworden. So stelle ich mir einen großen Feldherrn vor, der eine Entscheidungsschlacht verliert: teils schwer getroffen, teils hilflos, teils voller Scham angesichts der urteilenden Blicke. Er war freigelassen worden, aber er war nicht frei, würde vielleicht nie wieder frei von dem Verbrechen an seinem Bruder sein, ganz gleich, ob er es nun begangen hatte oder nicht. Er wusste das. Neben seinem Vater Gerold stehend, sah er ins Grab, doch mir blieb nicht verborgen, dass er während der Zeremonie einige Male Gerlindis’ Augen suchte und fand. Es berührte mich unmittelbar, dass Grifo in dieser schweren Zeit den Beistand eines jungen Mädchens suchte. Anhand der Blicke, die sie tauschten, ermaß ich den ungefähren Stand ihrer Beziehung. Grifo blickte schüchtern zu ihr, Gerlindis sah ihn mit großen Augen an, was bedeutete, dass er über die Anfänge einer Werbung noch nicht hinausgekommen war und dass sie die Werbung voller Ungeduld erwartete. Sie standen der Liebe mit der gleichen Ratlosigkeit gegenüber wie Arnulf und ich, als wir ungefähr in ihrem Alter waren.
    Ich beobachtete auch die anderen Anwesenden, und bei einigen von ihnen stellte ich mehr Erschütterung fest, als ich angenommen hatte. Teodradas Trauer zeigte sich unverhüllt. Das Mädchen schluchzte wie um einen Gatten, fast unschicklich, und so oft ihre Schwestern sie auch anstießen, sie unterdrückte die Tränen nicht.
    Manch tiefe Trauer zeigte sich weniger offenkundig. Mathilda,
Karls römische Konkubine, die von Teodrada mir gegenüber beschuldigt worden war, Hugos Besuche bei Teodrada verraten zu haben, wirkte wie eine stille Tragödin. Sie schloss bisweilen die Augen, als riefe sie sich bessere Tage in Erinnerung, doch in den Mundwinkeln blieb ihr Schmerz eingegraben.
    Am rätselhaftesten und am schwersten zu erkennen war die Erschütterung eines Mannes, bei dem ich dies kaum vermutet hätte. Sein Gesicht war scheinbar unbewegt, doch die Lippen hatten sich verhärtet, die Nasenflügel sich geweitet. Keiner der Umstehenden, da war ich mir sicher, bemerkte etwas davon, und hätte es jemand bemerkt, würde er es nicht als Erschütterung, sondern als unterdrückten Zorn wahrnehmen. Ich jedoch stand direkt neben diesem Mann, und ich als Einzige kannte ihn gut genug, um Erschütterung von zurückgehaltenem Zorn zu unterscheiden - der Mann, von dem ich spreche, war Arnulf. Ich konnte das Beben in seinem Innern fast körperlich spüren.
    Â 
    Nach der Grablegung ging der Hof in langer Prozession vom Kirchhof bis zur Pfalz. Als wir an Emmas Haus vorbeikamen, sah ich sie in der Tür stehen. Sie blickte geflissentlich an mir vorbei. Gerlindis verließ für kurze Zeit die Prozession, umarmte Emma, und ich hörte sie sich bedanken. Natürlich ging es um Grifo, dessen Freilassung Gerlindis auf das Gespräch mit Emma zurückführte. Und konnte ich mir sicher sein, dass sie irrte und dass ich es gewesen war, die Arnulf überzeugt hatte? Eine Stunde zuvor war Arnulf bei Emma gewesen - hatte er schon dort den Beschluss gefasst, Grifo freizulassen?
    Der Gedanke stach mir mitten in die Brust, und ein neuer Schub von Hass auf diese Frau ging durch mich hindurch.
Ich begab mich erneut ins Frauenhaus. Vorhin habe ich bereits angedeutet, welche Stimmung dort herrschte. Diese Stimmung des Misstrauens und der Ausgrenzung hatte keineswegs nur mit Teodrada zu tun, wenngleich sie ihren Teil dazu betrug. Man stelle sich vor: Es lebten dort fünf Töchter von drei von Karls Ehefrauen und drei Töchter von zwei von Karls Konkubinen, ferner die derzeitigen Konkubinen selbst. Zu den üblichen Schwierigkeiten, wenn Menschen gezwungenermaßen mehrere Jahre lang viel Zeit miteinander verbringen, kam hier noch die Rivalität hinzu. Einige Königinnen waren sehr beliebt gewesen, andere sehr unbeliebt, einige hatten Karls Konkubinen gehasst, andere hatten sich nicht an ihnen gestört, und all das übertrug sich auf die

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