Die Giftmeisterin
Zwanzig Jahre grausamer Kämpfe mit wechselndem Kriegsglück, Verrat, Gemetzeln und Aufständen hatten mit der Unterwerfung der Sachsen geendet. Gersvind, Tochter eines Stammesführers, war ein Pfand für den Friedensschluss und Zeichen von Karls Oberhoheit. Insofern
waren Gersvinds und Mathildas Schicksal vergleichbar, doch ihre Herkunft und Erziehung hätte verschiedener nicht sein können. Mathilda war im Schatten des Laterans aufgewachsen, Gersvind im Schatten der Wälder; die Römerin konnte Flöte spielen und Griechisch lesen, die Sächsin beherrschte die zweifelhafte Kunst, aus Tierknochen Kämme zu schnitzen; die eine war abweisend wegen ihres Standesdünkels, die andere aufgrund ihrer Derbheit. Mathilda war Christin, Gersvind war widerwillig zum Christentum übergetreten und musste oft von Karl ermahnt werden, weil sie bei vielen Messen fehlte. Und so weiter.
In der Mitte des Beckens stehend, Mathilda zur Rechten, Gersvind zur Linken, wandte ich mich zunächst Gersvind zu, obwohl ich wegen Mathilda gekommen war. Zum einen war es klüger, meine Absicht, Mathilda zu befragen, nicht allzu deutlich zu enthüllen. Zum anderen war es ein Bild von berührender Einfachheit, wie Gersvind ihre kleine Tochter badete, das nackte Kind an ihren nackten Körper drückte, es zum Lachen brachte... Es zog mich an.
»Darf ich sie kurz halten?«, fragte ich Gersvind.
Sie zögerte, gab sie mir dann aber doch. Die Kleine lieà sich den Wechsel zu mir ohne Weiteres gefallen und betrachtete mich mit groÃen erwartungsvollen Augen, denen ich augenblicklich verfiel. Ich küsste das Mädchen auf die Wangen und drückte unsere Nasen aneinander, sodass wir beide lachten. Gleichzeitig mit dem Glück, ein Kind im Arm zu halten, stieg tief in mir das Unglück auf, dass es nicht meines war. Das Mädchen atmete in mein Gesicht, meine Fingerkuppen waren in seinen Hüften verkrallt, es griff nach meinen Haaren, ich sagte ihm nette Dinge - so eng war ich seit meiner Kindheit in einem Haus voller Geschwister nicht mehr mit einem so kleinen Kind beisammen
gewesen, sieht man von dem unglücklichen Wesen ab, das ich geboren hatte, ohne es vor dem Tod am gleichen Tag schützen zu können. Ich beneide Frauen mit zwei Wochen, zwei Jahre oder acht Jahre alten Söhnen und Töchtern, während ich Frauen mit fünfzehn oder zwanzig Jahre alten Söhnen und Töchtern bemitleide, da sie sich um ihre Kinder sorgen, ohne noch entscheidenden Einfluss auf sie nehmen zu können. Es ist die immense Schwäche, die ich liebe, dieses völlige Vertrauen junger Wesen und der unbedingte Wunsch, diesem Vertrauen gerecht zu werden. Ich spürte eine Ahnung dieses Gefühls, wenn Arnulf junge Hunde mit nach Hause brachte, die er zur Jagd ausbilden wollte und die sich sofort in meine Obhut begaben, oder als ich vor Jahren ein verwaistes Entenküken fand, das ich aufzog. Die Schutzlosigkeit solcher Wesen rührt mich an, ich kann ihr nicht widerstehen, niemand kann das, und mehr als nach allem anderen sehne ich mich danach, mich aufzuopfern. Zumindest eine Zeit lang.
Gersvind bemerkte meine Sehnsucht, ging aber nicht darauf ein. Sie ging nie auf irgendetwas ein, deswegen konnte niemand sie leiden. Sie hatte trotz ihrer einundzwanzig Jahre einen harten, schroffen Gesichtsausdruck, dem man ansah, dass er unter anderen Lebensumständen weit weniger schroff geworden wäre. Ich fällte kein Urteil über sie. Bei ihrer Geburt war sie Tochter eines freien Stammes gewesen, dann waren ihre Brüder in Schlachten gefallen, die Dörfer ihres Volkes niedergebrannt worden... Der Krieg war in Gersvinds Seele eingedrungen, und er hatte sich dort eingeschlossen. Zudem war es kein Zuckerschlecken, eine königliche Konkubine mit Kind zu sein, denn man wusste ja nie, was die Nachfolger des Königs mit einem tun würden. Bei den Merowingern wurden die Prinzen entweder
König oder Mönch, oder sie wurden Leiche. (Und die Kinder von Karls Bruder Karlmann sind alle keine zehn Jahre alt geworden.)
Gersvind verlangte ihr Kind zurück. Trotz des harten Tonfalls hörte ich den Ausdruck groÃer Liebe und Fürsorge für ihre Tochter heraus.
»Danke, dass ich es halten durfte.«
Sie wandte sich wortlos ab, stieg aus dem Becken. An dessen Rand trocknete sie das Kind ab, danach sich selbst. Eine Ahnung davon, was die Römer früher Barbaren genannt hatten, überkam
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