Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
wenigen Äpfel gestern Nachmittag nichts mehr gegessen hatte. So süß sie auch gewesen waren, war Obst doch kein Ersatz für ausgefallene Mahlzeiten, und Rani durchsuchte ihre Tunikataschen und brachte die Äpfel zum Vorschein, die sie dort versteckt hatte. Mit dem ersten Biss erwischte sie eine Druckstelle, das Fruchtfleisch war mehlig und geschmacklos.
Rani rümpfte die Nase und wollte die Frucht wegwerfen. Gerade als sie das Handgelenk anspannte, erkannte sie jedoch, dass sie vielleicht nicht so bald an eine neue Mahlzeit käme. Der zweite und dritte Apfel waren ebenso voller Druckstellen, aber Rani war zumindest etwas weniger ausgehungert, nachdem sie sie gegessen hatte.
Nahrung war natürlich nur ein Teil des Problems. Ranis Hände klebten vom Saft der Äpfel. Ihre Kleidung haftete an unangenehmen Stellen von außen an ihrem Körper, und ihre Blase drückte schmerzhaft von innen. Sie verzog im Dunkeln das Gesicht, kroch zur Ofentür und schob den schweren Stein auf, so dass sie hinausspähen konnte.
In dem jähen Licht blinzelnd, wischte sie unfreiwillige Tränen fort. Erst nachdem sie ihre Augen in der Helligkeit gewaltsam geöffnet hielt, erkannte sie, dass es tatsächlich überhaupt nicht hell war. Sie spähte in die Nacht hinaus – nur eine einzelne Fackel flackerte in ihrem Sichtfeld. Eine Fackel, und ein Heer von Soldaten.
Rani erstarrte wie ein von Jägern aufgespürtes Wild. Sie spitzte die Ohren und konnte ein unaufhörlich scharrendes Geräusch ausmachen, so beharrlich, dass sie sich fragte, wie sie es bisher hatte überhören können. Ein Schauder kroch ihr Rückgrat hinauf. Rani versuchte, den vollkommen unvertrauten Klang zu orten, biss die Zähne zusammen und wagte es, ihre Gefängnistür noch ein wenig weiter zu öffnen. Die Ofentür knirschte auf der Steinplattform, das Geräusch wurde von dem hohlen Ofen zurückgeworfen, bis es schien, als würde der Lärm jeden Soldaten im Umkreis auf den Plan rufen. Rani hätte beinahe laut aufgeschrien, als sie die Quelle des scharrenden Geräuschs erkannte.
Das große Gildehaus wurde Stein um Stein dem Erdboden gleichgemacht. Rani sah entsetzt hin, während Gruppen von Glasmalern in Seilgurten rangen, sich unter den stahlharten Blicken der Soldaten Shanoranvillis vorbeugten. Ausbilder standen auf den zerfallenden Mauern und hieben mit Metallstangen auf das zerstörte Haus, wodurch sie große Steinblöcke herausbrachen. Zögernden Arbeitern traten augenblicklich uniformierte Soldaten entgegen, und Rani keuchte beim Knallen einer Peitsche.
Die Entrüstung schmolz im Handumdrehen zu Schuld dahin. Wie hatte sie ihrer Gilde dies aufbürden können, den Menschen, die ein unwürdiges Händler-Gör aufgenommen und gelobt hatten, ihr ein wertvolles Handwerk beizubringen? Sie dachte einen Moment daran, sich den Soldaten zu zeigen, aus ihrem Versteck zu kriechen und zu gestehen, dass sie Tuvashanoran in den Tod gerufen hatte. Ihr Eingeständnis könnte das vor ihr ausgebreitete Elend vielleicht lindern, und es wäre besser, als hilflos auf der Ofenplattform zu kauern.
Bevor sie sich jedoch regen konnte, murmelte eine dünne Stimme in ihrem Hinterkopf etwas. Sie war nicht nur die Zerstörung des Gildehauses verantwortlich. Sie hatte nichts mit dem Angriff auf Tuvashanoran zu tun. Außerdem hatten die Soldaten im Refektorium nur allzu deutlich gesprochen – sie sannen auf Rache, und nichts konnte die Glasmalergilde jetzt mehr retten. Das Haus würde dem Erdboden gleichgemacht, die Felder mit Salz bestreut, der Brunnen verseucht, und Ranis Opfer würde nichts daran ändern.
Der Gedanke an den Brunnen lenkte Ranis Aufmerksamkeit unwillkürlich wieder auf ihre gegenwärtige, missliche Lage, denn der Durst ließ ihre Zunge bereits anschwellen. Sie sah sich seufzend in dem winzigen Raum um, ob sie nichts zurückgelassen hatte. Dann atmete sie tief durch und schob die Ofentür einen weiteren Zoll auf.
Die Luft, die in den Ofen drang, war kalt, und Ranis Zähne klapperten, trotz ihrer Angst, dass die Soldaten es hören könnten. Als sie aus dem Ofen kroch, frischte der Wind auf und blies ihr staubige Überreste des Gildehauses in Augen und Nase. Sie unterdrückte ein trockenes Husten und ein Niesen und schlang die Arme um sich, um die Mitternachtsluft abzuwehren.
Es war keine militärische Tüchtigkeit erforderlich, um zu erkennen, dass Ranis einziger möglicher Fluchtweg die Apfelplantage wäre. Auf dem umgekehrten Weg wie bei ihrem unheilvollen Eintreffen,
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