Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
gedroht, die Wiege eines Babys in Brand zu stecken.«
Rani ließ ein wenig ihres verbliebenen Ärgers auf Varna – ihre ehemals beste Freundin – in ihre Worte einfließen: »Niemand könnte so böse sein!«
»Ja, kleine Pilgerin, das sollte man glauben. Aber nicht alle Mädchen sind so gehorsam wie du.« Der Soldat wischte mit einem Daumen onkelhaft Ranis Tränen fort. »Komm mit, Kleine. Wir werden dich zum Marktplatz bringen. Es ist gefährlich, wenn du allein durch diese Straßen wanderst. Du bist bereits auf die Unberührbaren gestoßen – du weißt nicht, welche anderen Übel dir noch begegnen mögen.«
Rani konnte erkennen, dass der Hauptmann der Wache nicht so weichherzig war wie dieser Mann, aber sie ließ es zu, dass ihr angenommener Retter seinen Militärumhang um ihre Schultern legte. Das Kleidungsstück war ihr zu lang, flatterte um ihre Knie. Bevor Rani Dankbarkeit für die Wärme empfinden konnte, rief der Soldat aus: »He da!« Er steckte seine Finger durch das ausgefranste Loch in ihrer Tunika, durch die Fäden, die ihr Glasmaler-Abzeichen gehalten hatten. »Was ist das?«
»Das war mein Stern! Da hat meine Ma mein Pilger-Abzeichen aufgenäht, damit ich von all den Tausend Göttern beschützt durch die Stadt gehen könnte!« Echte Panik färbte Ranis Stimme, und sie wollte sich dem Griff des Wächters entziehen. Der Hauptmann schnaubte missbilligend, und sie bemühte sich, den Laut entweder dem Unglauben gegenüber der Geschichte einer Mörderin oder dem Widerwillen gegenüber der Unbeholfenheit einer Pilgerin zuzuschreiben. Ihr Adoptivsoldat warf seinem Vorgesetzten einen raschen Blick zu.
»Habe ich die Erlaubnis, dieses Kind zum Marktplatz zu begleiten, Hauptmann?«
»Wer sagt, dass sie nicht das Balg ist, nach dem wir suchen, Mann?«
»Seht sie nur an! Sieht sie so aus, als wäre sie an einem Plan beteiligt gewesen, Prinz Tuvashanoran zu töten? Diese Kleine konnte sich kaum selbst die Nase ausschnauben!«
Rani schluckte ihre Empörung über den gönnerhaften Tonfall des Mannes hinunter und zog die Schultern hoch, um noch kleiner zu wirken. Der Hauptmann betrachtete ihre Mitleid erregende Gestalt und knurrte seinem Mann wütend zu: »Dann geh. Bring sie zum Markt. Wenn ihr Vater nicht zu sehen ist, dann übergib sie dem Rat, und wir kümmern uns wieder um unsere Wache.«
Der Soldat salutierte, und Rani nickte dankbar. Sie blieb still, während sie durch die Straßen gingen, schrie nicht einmal auf, als Schatten im Nebel zuckten und sie die Gestalten der Kinder der Unberührbaren ausmachen konnte, die sich ihrer angenommen hatten – und die sie verraten hatte. Sie wusste nicht, ob sich Mair in der Nähe aufhielt, um ihr zu helfen oder um Rache für Ranis Anschuldigungen zu üben.
Trotz der Bedrohung durch die Kinder der Unberührbaren, suchte Rani eine Gelegenheit, dem Soldaten zu entwischen. Sobald die Sonne aufstieg, würde er ihre Tunika wahrscheinlich erneut betrachten und erkennen, dass der fehlende, Tausendspitzige Stern nicht an ihrem rechten Ärmel gewesen war, sondern eher an ihrem linken – die typische Stelle für ein Gildeabzeichen. Außerdem würde der Wächter wahrscheinlich darüber nachdenken, ob es klug war, einem schmuddeligen Kind zu glauben, das allein auf den Straßen unterwegs war – ob Pilgerin oder nicht.
Die Entscheidung wurde Rani bald abgenommen. Als sie am Rande des Marktplatzes ankamen, warf sie einen prüfenden Blick über die geschäftigen Menschen, die ihre Waren für den neuen Tag auslegten. Anmutige Steinsäulen zogen sich über den Platz, deren komplizierte Steinmetzarbeit schwere, vom Morgentau einwärts gewölbte Planen stützte. Die aufgehende Sonne färbte den Himmel, und rötliches Licht durchdrang das Nebelgrau. Reihen um Reihen von Ständen erstreckten sich über den Marktplatz.
Der Soldat führte sie tiefer in das enge Straßengewirr, an verlockenden Essensständen vorbei. Der stechende Geruch nach Käse schwebte durch die Luft, und einige Schlachter hatten unter einem fliegenumschwärmten Baldachin ihre Stände errichtet. Gemüsepyramiden ragten zu Ranis Linken auf. Kunden schwärmten bereits umher, dicht aneinandergedrängt, während spät eintreffende Händler die Wege mit ihren Tischen blockierten.
»Also, Kind«, sagte der Soldat, eine Hand besitzergreifend auf ihrer Schulter, »wo solltest du deine Familie treffen?«
»Mein Vater sagte, er würde bei den Wiegemeistern warten. Er sagte, Männer, denen die Aufgabe zukäme, die
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