Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
ein Marktkorb wurde in dem Wirrwarr fallen gelassen. Noch während die Kinder der Unberührbaren zu den Ständen schwärmten, um die verstreuten Waren an sich zu reißen, hörte Rani die Trompeten, die den Weg über den Markt für König Shanoranvillis Beamte freimachten. Sie zögerte kaum, bevor sie auf Nardas Tisch kletterte, und zwischen den wenigen verbliebenen Eiern balancierte, um besser sehen zu können.
Ihr Magen rebellierte bei dem Anblick, der sich ihr bot, und sie wäre fast von ihrem erhöhten Standort gestürzt. Sechs bewaffnete Soldaten drängten sich mit einer mit Abfall beschmierten Holzplattform durch die Menge. Währenddessen stieg unter den Händlern Geschrei auf. Überreife Melonen prallten gegen die Last der Männer, aber die Soldaten ertrugen die Kränkung stoisch. Ein eilig gefertigtes Banner lag über der Trage, aber Rani konnte die groben Buchstaben nicht erkennen.
»Cor!«, rief Mair aus, und die Anführerin der Unberührbaren zuckte unter Ranis erstarrter Hand zusammen. »Rai, nun brauchste nich’ mehr nach deiner Ausbilder-Freundin zu suchen!«
Rani zwang sich, zur Trage zu blicken, gerade als ein verwelkter Kopfsalat gegen die Last der Wächter prallte. Ausbilderin Morada stierte auf den Marktplatz hinaus, wobei sich der unerbittliche Zorn unter einem blutigen Streifen starren, weißen Haars bereits umwölkt hatte. Ein grausamer Langspieß hielt den abgetrennten Kopf auf der beschmutzten Trage fest, während Shanoranvillis Wache ihren Beweis für die Gerechtigkeit des Königs präsentierte. Die Soldaten zogen an dem Eierstand vorüber, und schließlich konnte Rani die Worte auf dem besudelten Banner erkennen: TOD ALLEN VERRÄTERN.
6
»Und hast du noch etwas zu deiner Verteidigung zu sagen, bevor wir unser Urteil verkünden?«
Rani zwang sich, ruhig durchzuatmen, sich all der Sätze zu erinnern, die sie während der vierzehn Tage auf dem Marktplatz so sorgfältig geprobt hatte. »Ich habe mein Bestes versucht, Euer Gnaden, auch wenn es nicht leicht war.« Moradas blutiges Gesicht tauchte ungebeten vor ihrem inneren Auge auf, und sie musste fest blinzeln, um die Vision karmesinrot befleckten, Pfeffer-und-Salz-farbenen Haars zu vertreiben. Vielleicht hatte Rani in Wahrheit nicht ihr Bestes versucht. Vielleicht hätte sie Ausbilderin Morada vor ihrem Tod befragen können, wenn sie sich mehr bemüht hätte. Sie hätte möglicherweise mehr über die seltsame Bruderschaft erfahren können, über die die Glasmalerin und der Adlige gesprochen hatten, unmittelbar bevor Morada gefangen genommen wurde.
»Und unterwirfst du dich unserem Urteil ohne Vorbehalt oder Widerspruch?«
»Ja, Euer Gnaden.« Rani dachte verspätet daran, sich hinzuknien, sich auf den unebenen Ziegelboden niederzulassen und den drückenden Schmerz an ihren Knien zu ignorieren.
»Dann verkünde ich, kraft der mir von König Shanoranvilli übertragenen Macht, dass dein Urteil erfüllt wurde. Du kannst nun frei unter den Menschen wandeln, ohne den Makel deines früheren Vergehens auf der Stirn.« Borin lehnte sich auf seinem thronähnlichen Stuhl zurück, und Rani unterdrückte ein erleichtertes Seufzen.
Dass Borin ihren Dienst anerkannte, war ein mit gemischten Gefühlen behafteter Segen. Natürlich konnte sie nun frei kommen und gehen. Dennoch gab es keinen bestimmten Ort, wohin sie gehen könnte, keinen Ort, an dem sie vollkommen sicher wäre, vor neugierigen Augen geschützt. Rani fragte sich mit einem unguten Gefühl der Vorahnung, ob sie ihre quadratische Münze nicht nützlicher hätte einsetzen können, als sie dazu zu verwenden, sich Nardas Nachgiebigkeit zu erkaufen.
»Erhebe dich, Rani.« Der oberste Ratsherr meinte den Befehl wahrscheinlich als Ehrung, aber Rani fühlte sich in ihrer unruhigen Stimmung eher bedroht. »Nur selten findet der Rat einen Händler, der seinen Regeln gegenüber deine Sorgfalt und deinen Respekt zeigt. Deine Familie sollte stolz auf dich sein.« Rani schluckte unbehaglich. Es wäre nicht gut, wenn Borin Fragen über ihre Familie stellte. Sie erkannte jedoch, dass der oberste Ratsherr auf eine wie auch immer geartete Antwort wartete, und brachte einen knappen Hofknicks zu Stande. »Ich hoffe, sie sind es, Euer Gnaden. Das hoffe ich gewiss.«
Bevor Borin etwas erwidern konnte, entstand am Rande des Raumes Tumult. Rani wandte sich um und sah, dass Borins Ratskollegen beiseitetraten und mit vage verhüllter Ungehaltenheit mit den Füßen scharrten, während ein Neuankömmling den Raum
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