Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
Rani erinnerte sich noch an seinen prahlerischen Stolz, besonders dass er vor den Händlern erwählt worden war, die ihre Waren auf dem Marktplatz verkauften. Dass der Rat dieses Amt einem Kind antrug – einer Rebellin, die sich eine Strafe eingehandelt hatte, weil sie die Regeln ihrer Kaste verletzt hatte… Hatte Mair etwas zu Borin gesagt, was diese Ehre bewirkt hatte? Rani sank in aufrichtiger Demut erneut auf die Knie und vergaß, das Gehabe ihrer angenommenen Identität und ihre erfundene Geschichte zu beachten. »Euer Gnaden, Ihr erweist mir eine zu große Ehre.«
»Unsinn, Rani. Ich beehre dich mit dem, was dir gebührt. Du hast deine Strafe – sogar das Anketten an den Stand – mit für alle deutlich sichtbarer Würde ertragen. Wenn du einst deinen eigenen Stand auf dem Marktplatz hast, wird er ein Beispiel für deine Mithändler sein. Die diplomatische Mission, den Zehnten zu überbringen, gebührt dir, wenn du es möchtest.«
»Ich fühle mich geehrt, Euer Gnaden. Ich werde gerne zur Priesterschaft gehen.«
Borin hatte vielleicht einen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen, aber gewiss sprach er nun rascher: »Dann halte dich an deine Kaste, Rani, geh als unsere Abgesandte voran, und bringe allen unseren Leuten Ehre ein.« Ranis Blick zuckte hoch, als sie erneut die Worte hörte, welche die in der Gasse kauernde Unberührbare gemurmelt hatte, aber Borin schien sich nicht bewusst, etwas Ungewöhnliches gesagt zu haben. Stattdessen vollführte er eine gebieterische Geste, und Kasrin eilte mit einem kleinen Holzkästchen heran.
Rani hatte sich einen Karren mit hoch aufgehäuften Waren vorgestellt, der unter dem gemeinsamen Gewicht all der Gaben schwankte. Sie hätte fast aufgeschrien, als sie ihren Irrtum bemerkte, und ließ von dem verlockenden Bild insgesamt ab, oben auf einem Berg Schätzen thronend auf das Gelände der Kathedrale zu gelangen. Ihre Enttäuschung musste sich auf ihren ernsten Zügen widergespiegelt haben.
»Ist es nicht das, was du erwartet hast?«, fragte Borin mit angespanntem Lächeln.
»O nein, Euer Gnaden«, begann sie kopfschüttelnd. »Es ist nur so, dass…«
»Wir haben eine Übereinkunft mit der Priesterschaft getroffen. Sie haben keine Lagerhäuser für unseren Reichtum, und sie wollen keine verdorbenen Waren bekommen. Beginnend mit diesem Jahr, schicken wir ihnen Versprechen – auf Goldpapier festgehalten und in dieser Truhe aufbewahrt.« Borin öffnete das Holzkästchen, und Rani bemerkte Zedernduft, während sie ein zartes Stück Goldpapier über eine Seite ragen sah. »Sie brauchen dem Rat in den kommenden zwölf Monaten nur diese Belege vorzuzeigen, und wir werden ihnen die feinsten Waren liefern, über die wir verfügen.«
Rani nickte, während sie den Vorteil für den Rat bedachte: Die Händler konnten die Waren immer noch als die ihren betrachten, wenn schwierige Verhandlungen mit Geldverleihern anstanden. Ihre Wangen röteten sich vor Interesse. Sie hätte sich niemals träumen lassen, dass das Leben als Händler so voller Machenschaften und Verflechtungen sein könnte. Man musste nicht zu einer Gilde flüchten, um Gegenstände zu arrangieren und schöne Strukturen zu gestalten. Das Gleiche könnte sie hier im Händlerrat tun.
Borin deutete ihre Gesichtsröte jedoch falsch. »Du schämst dich für deine Mission, jetzt wo du weißt, dass du nicht den sichtbaren Reichtum deiner Kaste mit dir tragen wirst?«
»Nein, Euer Gnaden!« Rani verhaspelte sich in dem Bemühen, dem obersten Ratsherrn zu widersprechen. »Ich bin nur von der Einzigartigkeit Eures Systems beeindruckt.«
Borin unterdrückte ein säuerliches Lächeln, als glaube er kein Wort von dem, was sie sagte. »Ein einzigartiges System, nun, ja. Genug der Schmeicheleien. Wenn du jetzt gehst, erreichst du die Kathedrale noch vor der Dämmerung.«
Rani nahm das hölzerne Kästchen mit einer steifen Verbeugung entgegen. Borin schien Rani zum Rand des Marktplatzes folgen zu wollen, aber als sie den Dachvorsprung des Säulengangs erreichten, erschien eine Phalanx bewaffneter Soldaten. Rani warf einen raschen Blick zu Borin, aber die Gegenwart der Soldaten schien ihn nicht zu überraschen, als wäre er schon vorab von ihrem Eindringen unterrichtet gewesen.
»Borin, oberster Ratsherr der Händler?«
»Ja.« Rani konnte die einzelne Silbe über ihr hämmerndes Herz hinweg kaum hören. Sie erwog, das Kästchen mit den Belegen fallen zu lassen und dem Marktplatz ebenso stürmisch zu entfliehen, wie sie
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