Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
bevorzugt wurden, priesen laut die Tausend Götter, dankbar dafür, bei diesem ehrenwertesten aller Schauspiele auserwählt worden zu sein. Mehr als ein Händler nannte Jairs Namen, rief den Gründer von König Shanoranvillis Haus an, den Mann, der an diesem heiligsten aller Festtage geehrt wurde.
Die Kakophonie verstärkte sich noch, als die Pilger die Prozessionshymne anstimmten und nacheinander jeden der Tausend Götter darum anriefen, ihre Pilgerreise zu segnen und der Stadt, dem Königreich und dem Leben der Pilger selbst Frieden und Wohlstand zu gewähren. Als der erste der geweihten Wanderer die Statue des Verteidigers erreichte, krampfte sich Ranis Magen erwartungsvoll zusammen. Dies war der Moment, auf den zu warten Larindolian sie geheißen hatte. Dies war der Grund, warum sie im Morgenlicht gebetet hatte.
»Mair…« Sie wandte sich der Anführerin der Schar der Unberührbaren zu, ignorierte den bestürzten Rabe.
»Pass auf, wo du hingehst, Rai. Du kannst nich’ sehen, wo sich die Schlange auf den Felsen sonnt. Und vergiss die Worte der Core nich’. Sie sagte, sie würden für dich Leben oder Tod bedeuten.«
Bevor Rani etwas erwidern konnte, wogte die Pilgerschar um sie herum, und feste Hände ergriffen ihre Schultern und zogen sie in die schwarz gekleidete Menge. Rani hob protestierend eine Hand, aber als es ihr gelang, sich umzuwenden, um Mair zu suchen, war das Mädchen bereits mit der Menge verschmolzen. Auch Rabe war nirgendwo mehr zu sehen.
»Hör auf zu kämpfen, kleine Närrin!« Die Stimme zischelte Rani ins Ohr, und sie wirbelte herum und sah sich grausamen Augen gegenüber, die in einem alternden Gesicht funkelten.
»Gilde…«, wollte sie ausrufen.
»Halt den Mund!« Gildemeisterin Salina ergriff mit eisernen Klauen ihren Arm, und Rani schluckte ihren zornigen Schmerzensschrei hinunter. Die Klaue der alten Frau zog Rani in die Gruppe der Pilger hinein, aber der Lehrling stimmte erst in die Prozessionshymne mit ein, als sie spürte, wie die Finger der Meisterglasmalerin ihren Arm bis auf den Knochen zusammendrückten.
»Heil, Verteidiger des Glaubens. Führe diese Pilger auf den Spuren Jairs, des Ersten und größten Pilgers. Führe die Füße und Herzen dieser Pilger den Bräuchen des großen Gottes gemäß…« Rani brach ab, war sich nicht sicher, zu welchem Gott zu diesem Zeitpunkt des Schauspiels gebetet wurde. Ile, der Gott des Mondes. Auf Salinas schweigendes Drängen hin, fuhr Rani fort, setzte mechanisch den Gott der Sonne, den Gott der Sterne, den Gott der Wolken ein. Sie zitterte, als sie unter dem von der Kapuze verborgenen Blick eines der Wächter Jairs vorüberging.
Als Rani ihre Neugier nicht länger zurückhalten konnte, flüsterte sie: »Hat Larindolian Euch geschickt? Wie seid Ihr den Verliesen des Königs entkommen?«
Salina festigte lediglich ihren Griff um Ranis Arm und erhob ihre Stimme, um die Prozessionshymne noch ein wenig lauter zu singen. Rani beschloss, die Angelegenheit nicht weiter zu verfolgen. Sie kannte zumindest die Antwort auf ihre erste Frage. Gildemeisterin Salina war in Verkleidung hier. Sie musste der Bote sein, den Larindolian versprochen hatte. Sie tat, was die Bruderschaft wollte, und Rani sollte ihrem Beispiel besser folgen, wenn sie Bardo sehen wollte.
Plötzlich dachte Rani an die Worte, die Mair ihr gerade von der Core überbracht hatte. Die Hirschkuh läuft schneller als der Hirsch, und sie hat sich nicht mit einem Geweih im Dickicht verfangen. Salina war in der Hierarchie der Bruderschaft hoch aufgestiegen – höher als wie viele Männer? –, aber sie konnte sich in der Außenwelt dennoch frei bewegen und Rani über den Marktplatz zerren. Die Gildemeisterin hatte vielleicht ihr Gildehaus und alle ihre Lehrlinge und Gesellen verloren, aber sie war Shanoranvillis blutiger Rache entronnen. Es war ihr gelungen, sich aus dem tödlichen Dickicht von Prinz Tuvashanorans unzeitiger Ermordung zu befreien.
Der Gedanke schickte einen Kälteschauer durch Ranis Körper, der im Schmerz ihres bandagierten Armes unter den schwarzen Gewändern sein Ziel fand. Mairs Warnung musste Salina gegolten haben. Die Gildemeisterin hatte bei allem, was schiefgegangen war, eine gewichtige Rolle gespielt – sie hatte Rani in den Mord am Prinzen, in die Verbrennung des Hauses ihrer Eltern, sogar in den Machtkampf zwischen Mair und Rabe verwickelt. Und womöglich sogar in die Tötung Dalaratis. Als sich Rani schließlich ihrer nächtlichen Flucht vom
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