Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
waren das »Hauptschiff« der gepflasterten Straße entlanggeschritten. Ein Mal hatte Rani sogar Bardo überzeugen können, die Rolle des Hohepriesters zu spielen, auf der Schwelle des Händlerladens zu stehen und den Ersten Pilger mit aller Feierlichkeit des heiligsten Tages des Jahres zu begrüßen.
Spiele waren eine Sache, aber die Realität eine vollkommen andere. Rani schrak davor zurück, die Schwelle zu übertreten, zögerte beim Eintritt in die Kathedrale, näherte sich aber dann dem Altar, an dem Tuvashanoran seinem Tod begegnet war. Der Priester an der Tür schien erfreut über ihre Demut. »Sehr gut, Erste Pilgerin. Du erkennst die Ernsthaftigkeit des von dir eingeschlagenen Kurses. Wo sind deine Eltern? Sie sollten zusehen, wenn du die Ehre der Ersten Pilgerin übernimmst.«
Ranis Stimme zitterte. »Meine Eltern haben die Himmlischen Tore durchschritten.«
»Was! Wie hast du die Pilgerreise bewältigt, allein und unbeaufsichtigt?«
Rani dachte rasch nach. »Mein Vater starb, als ich noch ein Säugling war. Ich habe ihn niemals kennen gelernt. Meine Mutter ist mit mir zu der Pilgerreise aufgebrochen, aber sie wurde weit von der Stadt entfernt krank. Wir wurden von einem Hospiz aufgenommen, das den großen Gott Zake verehrt, und von Doktoren behandelt, die seinem heiligen Namen geweiht sind. Meine Mutter lag mehrere Wochen im Sterben.«
»Und wie bist du in die Stadt gekommen?«
»Meine Mutter wollte den letzten Wunsch, den mein Vater auf dem Totenbett geäußert hatte, erfüllen. Er wollte mich auf den Stufen der Kathedrale sehen. So vertraute sie mich der Fürsorge anderer Pilger an, die an dem Hospiz vorüberkamen.«
»Und ihre Namen?«
»Farna, Herr. Farna und ihr Ehemann Hardu.«
»Und wo sind sie?«
»Wir wurden während der Prozession auf dem Marktplatz getrennt. Ich denke, sie sind bereits in der Kathedrale – Farna ist ungewöhnlich klein und wollte sichergehen, dass sie die Zeremonie sehen könnte. Ich musste dieses letzte Stück Wegs allein zurücklegen, aber ich hatte die Tausend Götter als meine Begleiter.«
Ranis tapfere Schicksalsergebenheit berührte den Priester zutiefst. Er vollführte ein heiliges Zeichen, aus Dankbarkeit für die Pilger, die Rani auf ihrem mühsamen Weg geholfen hatten. »Du bist eine vortreffliche Pilgerin und eine Ehre für alle Gläubigen, die heute hier versammelt sind. Nun komm, wir sollten den Verteidiger des Glaubens nicht warten lassen.«
Der Verteidiger des Glaubens! Rani hob nur einen Moment lang den Kopf, mit einem eindeutigen Ausdruck der Hoffnung auf dem Gesicht. Der Verteidiger des Glaubens – vielleicht hatte es ein schreckliches Missverständnis gegeben! Vielleicht lebte Tuvashanoran noch, und all das Herumgerenne, all das Verstecken und Knausern und die entsetzlichen Taten waren ein schrecklicher Irrtum.
Als Rani die von Weihrauch verhüllte Kathedrale entlangschritt, erkannte sie ihren Fehlschluss jedoch sofort. Natürlich war Tuvashanoran tot. Shanoranvilli, der König von Morenia, war noch immer der Verteidiger des Glaubens, beugte sich noch immer unter der Last dieses Titels, den er hatte weitergeben wollen, bevor sein junger, tapferer Sohn vor dem Altar der Kathedrale niedergestreckt wurde. König Shanoranvilli, der befohlen hatte, dass Ranis ganze Familie in den Verliesen ermordet wurde…
Nun stand der alte König auf dem Podest, und allmählich breitete sich ein Ausdruck der Verärgerung auf seinen schroffen Zügen aus, während er die Js der Amtskette um seinen Hals betastete. Tatsächlich sahen die meisten Menschen in der Kathedrale Rani offen feindselig an. Sie hatten alle auf die Ehre gehofft, der Erste Pilger zu sein. Sie hatten alle Monate der Pilgerschaft vollendet, um zu dieser Zeit an diesem Ort zu sein. Rani verdrängte den Gedanken daran, was sie sagen würden, wenn sie erfuhren, dass sie nicht einen Schritt auf dem langen Pilgerweg gewandelt war, nicht einmal den Pfad der Götter hier in der Stadt vollendet hatte, die bescheidenste Reise, die ein Pilger unternehmen konnte, um dennoch rechtmäßig den Titel zu tragen.
Rani fühlte sich benommen, während sie sich König Shanoranvilli näherte, nur durch den Druck der Hand des Priesters auf ihrer Schulter geerdet, die ihr befahl, sich hinzuknien, die ihr befahl, den Kopf zu neigen. Eine Trompetenfanfare erklang durch das Steingebäude und hallte mit blechernem Stolz von den Marmorsäulen und Decken wider. Rani atmete tief ein, schluckte den Geruch von auf dem Altar
Weitere Kostenlose Bücher