Die Gilden von Morenia 02 - Die Gesellenjahre der Glasmalerin
wirkten die Augen des alten Mannes recht milde. Sie tränten an den Augenwinkeln, als hätte der Wind außerhalb der Hütte darin gebrannt. Sie konnte jedoch die Macht in jenen tiefen Höhlungen spüren, die reine Energie, die tief unter der Oberfläche aufflammte. Sie suchte unwillkürlich nach seiner Tätowierung, um zu sehen, ob sie einem Löwen oder einer Sonne, einem Schwan oder einer Eule gegenüberstünde, aber sie konnte im flackernden Feuerschein nichts erkennen. Die Runzeln um die Augen des alten Mannes waren zu tief, seine Züge zu verwittert, um die vertrauten Zeichen von Sheas Welt zu zeigen.
Sie wollte ihm sagen, dass Crestman die Wahrheit sprach. Sie wollte darauf vertrauen, dass die Geschichten des Löwenjungen sie aus diesem Unheil retteten. Sie wollte sich von Monny, dem blutdürstigen Kind fortzaubern lassen, von dem seltsamen, sprechenden Vogel, der gerade erwacht war und auf seiner hölzernen Sitzstange von einem Fuß auf den anderen trat.
Aber als Shea in jene Augen sah, erkannte sie, dass sie nicht lügen konnte. Davins Alter umstrickte sie, die Macht, die von ihm ausströmte wie kleine Wellen von einem in einen Teich geworfenen Stein. »Ich weiß nicht, Herr. Ich weiß nicht mehr, was die Wahrheit ist.«
»Die Wahrheit ist das, was Ihr daraus macht.«
Shea hörte die Worte, aber sie begriff sie nicht. Sie klangen wie die Dinge, die Pater Nariom äußerte, wie ein Eulenschrei.
»Ich weiß nicht, wie das geht, Herr. Ich bin eine Sonnenfrau. Ich erziehe meine Kinder. Ich finde Nahrung. Ich halte mein Haus rein.«
Crestman trat vor und legte eine Hand fest auf Sheas Arm. »Ihr habt es im Haushalt des Königs getan, Großmutter.« Shea blinzelte verwirrt. Sie war nie im Haushalt des Königs gewesen. Sie war niemals weiter nach Norden gelangt als bis dorthin, wo ihr kleines Haus stand.
Davin wandte seinen durchdringenden Blick dem Löwenjungen zu. »Du stellst deine Figuren auf einem unsicheren Spielbrett auf, Junge.«
Crestman antwortete prompt: »Ich spiele keine Spiele, Herr. Ich habe keine Spiele mehr gespielt, seit ich mein Spielzeugschwert gegen eine echte Klinge eingetauscht habe.«
Einen langen Moment herrschte Schweigen, während nur das im Kamin knisternde Feuer zu hören war. Dann atmete der alte Mann langsam aus. »Es war eine lange Nacht. Die Sterne leuchten hell, und ich bin draußen geblieben, um die Eule aufgehen zu sehen. Die Eule wird über der nächsten Phase meiner Arbeit wachen. Meiner Arbeit für den König.« Davin schlurfte zu seinem Kamin und ließ den zerlumpten Umhang auf den festgetretenen Erdboden fallen, als wäre er ein geistesabwesendes Kind, das es nicht kümmerte, wo es seine Sachen hinterließ. »Monny! Bring mir etwas Ale. Und du solltest mir besser erzählen, dass du ein wenig Eintopf für einen alten Mann aufbewahrt hast.«
»Ja, Davin!« Der Junge antwortete prompt. Shea konnte die Erleichterung in seiner Stimme hören, seine Freude darüber, dass es richtig gewesen war, Crestman und Shea zu der Hütte zu bringen. Oder zumindest nicht falsch.
»Wir werden bis morgen früh warten«, brummte Davin, während Monny dem alten Mann die Stiefel auszog. »Wir werden bei Tageslicht entscheiden, was mit unseren Gefangenen geschehen soll.«
5
Sin Hazar rieb sich die Hände, ließ die Finger über die eiskalten, im Cabochonschliff gestalteten Rubine und Smaragde gleiten, die in Ringe eingelassen waren. Ein Luftzug wehte durch den steinernen Raum, blies über den festgetretenen Erdboden tief unter dem Schloss. Es war unnötig, hier weiterhin Strategiebesprechungen abzuhalten – der Aufstand war bereits vor über sieben Jahren niedergeschlagen worden. Die Zeiten geheimer Planung gegen rebellierende Adlige waren schon lange vorüber. Aber hier hatte das Planen begonnen, als Sin Hazar Spione und Verräter fürchten musste. Aus Gewohnheit versammelten sich die Soldaten weiterhin in dem kahlen, steinernen Raum, um ihren Feldzug gegen Morenia zu planen.
Aus Gewohnheit oder aus Tradition. Das war das Problem bei diesen Adligen – jeder einzelne von ihnen wurde durch veraltete Traditionen behindert. Wir können keinen Krieg bestreiten, wenn der Winter kommt, weil kein Amanthianer das je zuvor getan hatte. Wir können keinen Scheinkrieg gegen die Liantiner jenseits des Meeres im Osten führen, weil kein Amanthianer das je zuvor getan hatte. Wir können kein Heer von Kindern ausheben, weil…
Ein Heer von Kindern. Darin irrten sie sich. Sin Hazar konnte ein Heer von
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