Die Gilden von Morenia 02 - Die Gesellenjahre der Glasmalerin
vorbei.
Die Sonne hätte sich jedoch keine Sorgen zu machen brauchen. Crestman war im letzten Moment zurückgesprungen, hatte sich vor der untergrabenen Mauer gerettet. Nun stand er am Rande des Schutts, der einst ein stolzes Schloss gewesen war, und schüttelte verwundert den Kopf. Er schaute zu den Ruinen hoch, öffnete den Mund und schloss ihn jäh wieder, als versuche er, das Klingen in seinen Ohren zu beseitigen. »Crestman!«, schluchzte die alte Frau. »Bist du verletzt? Wurdest du getroffen?«
»Es geht mir gut, Shea«, krächzte der Junge, ihre Aufmerksamkeit abwehrend.
»Lasst es mich einfach beenden. Lasst mich in Ruhe, Frau!«, brüllte er.
»In Ordnung, Männer! In die Feste! Achtet auf Fallen und treibt die Verräter auf!«
Die Jungen jubelten, während sie in die Ruinen stürmten und ihre gebogenen Messer und seltsamen kurzen Bogen zogen.
Die Luft war von Schreien erfüllt, während das Kleine Heer seine eigenen Leute überwand, den letzten Akt des riskanten Spiels ausführte. Während über ihr das Chaos widerhallte, fühlte sich Rani zu Shea hingezogen. Die alte Frau stand noch da, wo Crestman sie verlassen hatte, streckte noch immer eine Hand zu der Leere aus.
Rani erinnerte sich einen kurzen Augenblick an ihre Mutter, wie sie in dem großen Raum hinter dem Händlerladen neben der Feuerstelle gestanden hatte. Deela Händlerin hatte die Hand mit genau dem gleichen Gesichtsausdruck nach ihrem ältesten Sohn, nach Bardo, ausgestreckt. Bardo war jedoch in Eile gewesen, war auf den Marktplatz hinausgelaufen, oder zu einer Schänke oder zu einem anderen düstereren Vergnügen. Ranis Mutter hatte ihren Verlust erkannt, hatte erkannt, dass ihr Sohn mehr zurückließ als nur die Feuerstelle, an der er aufgewachsen war.
Rani schüttelte den Kopf, in der Hoffnung, dass sie sich niemals so verzweifelt nach jemandem sehnen würde. Dann trat Mair vor und ergriff Ranis Arm. »Cor! Siehst du das? Ein Heer kleiner Jungen, und sie ham es geschafft, ‘ne Schlossmauer zum Einsturz zu bringen, alles an einem Morgen! Rai! Haste das gesehen!«
»Ja, Mair, ich habe es gesehen.«
»Denk nur, Rai! Denk nur, was Halaravilli mit einem davon tun könnte!«
Rani dachte darüber nach, erkannte aber, dass Sin Hazar noch zu weitaus mehr bereit war. Denn Sin Hazar hatte Davin. Er hatte das Kleine Heer. Er sagte, er wolle Liantine im Osten. Aber Sin Hazar könnte seine Taktik ändern. Er könnte sein Ziel ändern. Sin Hazar könnte den Esser jederzeit nach Morenia bringen, wenn er es wollte.
Mair plapperte an jenem Abend noch immer, als sich das Kleine Heer versammelte, um seinen Sieg zu feiern. »Ich hab noch nie solch einen Lärm gehört, Rai.«
Mairs Erstaunen wurde jedoch von Davin unterbrochen, der aus der Dunkelheit auftauchte.
»Kleines Heer!«, verkündete der Mann.
»Da-vin! Da-vin! Da-vin!« Die Jungen stampften bei jeder Silbe auf den Boden.
Der alte Mann fuhr ungeduldig mit den Händen durch die Luft, signalisierte den Kindern Schweigen. Als der Singsang verklungen war, räusperte er sich. »Kleines Heer! Ihr habt eurem König heute gut gedient! Mit eurer Tapferkeit und eurer harten Arbeit habt ihr mein neuestes Kriegsgerät geprüft. Wenn ihr gen Osten segelt, werdet ihr bereit sein, König Sin Hazars größten Feind zu bekämpfen. Ihr werdet mit einem Esser ausgerüstet sein, der dreimal so groß ist wie derjenige, den ihr heute hier ausprobiert habt. Ihr werdet König Sin Hazar in Amanthia und jenseits des Meeres Ruhm einbringen!«
»Auf König Sin Hazar!«, rief ein Junge.
»Auf Amanthia!«, fügte ein anderer hinzu.
»Zu Ehren eures Dienstes, Kleines Heer, erkläre ich den heutigen Abend zu einem Festabend. Hauptmann Crestman! Ihr dürft zu Ehren eures Königs drei Fässer Wein anstechen! Trinkt auf euren Lehnsherrn, während ihr eure Manöver am Schwanenschloss abschließt! Lang lebe König Sin Hazar!«
»Lang lebe König Sin Hazar!« Das Kleine Heer umringte Crestman und nahm ihn auf die Schultern. Davin wandte sich um und ging den Hügel hinab.
Rani drehte sich zum Feuer, nur um Crestman auf sich zuwanken zu sehen. »Also«, krächzte er, seine Stimme klang von den morgendlichen Anstrengungen noch immer heiser. »Ihr hattet Glück, heute hier gewesen zu sein. Ihr habt die Albträume unserer Feinde zu sehen bekommen.«
»Wir fühlen uns geehrt«, sagte Mair trocken, und Rani sah ihre Freundin verwundert an. Hatte das Unberührbaren-Mädchen nicht den größten Teil des Abends geprahlt? War
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