Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
eine gequälte Hautstraffung. Seht mich an!
Torios Männer kämpften sich mit einem weiteren Stein, dem bisher größten, voran. Sie schwankten unter der Last zwischen ihnen, wankten vorwärts wie Arbeiter in einem Steinbruch, handhabten den glänzenden Stein mit massiven Eisenzangen.
Sie brauchten drei Anläufe, um den Stein anzuheben, um ihn auf die übrigen zu wuchten, auf die Metallplatte, auf Berylinas Brust.
Seht mich an!
Und irgendwie, an dem Falkenschrei vorbei, jenseits des weiß-goldenen Vorhangs, hörte Ranita sie. Die Glasmalerin verschränkte ihren Blick mit dem der Prinzessin, richtete ihn durch den hektischen, hastenden Raum. Ihr seht die Tausend, dachte Berylina, und Ranita nickte. Ihr hört und schmeckt und riecht sie. Ihr spürt sie mit Eurem Fleisch und Eurem Blut.
Die Glasmalerin trat einen Schritt näher, streckte beide Hände zu Berylina aus.
»Gesteht, dass Ihr eine Hexe seid!« Torios Ruf hallte in dem Raum wider, prallte von der Decke ab wie Hitzestrahlen von Steinen.
Berylina rang um einen letzten Atemzug. Entsagt ihnen nicht, Ranita Glasmalerin. Vergesst nicht, welches Verhalten sie von Euch erwarten. Erinnert Euch der Götter Euer ganzes Leben lang.
Die Steine waren jetzt mehr als schwer. Die Hitze hatte ihre Haut verkohlt. Sie konnte nicht länger widerstehen, konnte nicht bei dem schreienden Falken bleiben, konnte nicht hinter dem weiß-goldenen Tuch verweilen.
Sie drängte ihre Gedanken in den tiefsten Teil ihres Geistes, in die Tiefen, die sie während der Hypnose mit Ranita ausgelotet hatte. Sagt, dass Ihr mit den Göttern wandern werdet, dachte sie an Ranita gewandt. Sagt, dass Ihr Euch mit ihnen bemühen werdet. Sagt, dass Ihr ihre Pilgerin sein werdet Sagt es. Sagt es jetzt.
»Ja!«, rief Ranita. »Bei all den Tausend Göttern, ja!«
Berylina hörte die Worte wie das Quietschen der Himmlischen Tore. All die Götter um sie herum brachen in einen Freudentaumel aus. Die Tausend tanzten und sangen, lachten und riefen, akzeptierten Berylinas Übergabe, segneten den Handel, den sie eingegangen war.
»Gesteht!«, rief Torio erneut, aber Berylina hörte ihn kaum.
Stattdessen schloss sie die Augen und warf den Kopf zurück, ließ ihre geballten Fäuste sich entspannen. Sie ließ sich in den Tiefen ihrer Erinnerung nieder, im Kern ihres Seins, sank die Wege hinab, die Ranita Glasmalerin ihr erst drei Tage zuvor gezeigt hatte.
Dann war sie über die Eisenplatte hinausgelangt, über die Steine, über die Hektik und die Panik der Kurie. Sie war allein und nicht allein, lebendig und nicht lebendig. Sie fand das letzte Tor in ihrem Geist, die letzte Barriere, die noch zwischen ihrem Körper und den Himmlischen Gefilden stand. Sie richtete ihre Gedanken dagegen, breitete den innersten Kern ihres Seins in Akzeptanz, in Pracht, in Freude aus. Sie entfaltete das letzte Stück ihrer Pilgerrolle, tat den letzten Schritt ihrer Pilgerreise. Dies war die Macht, die Jair ihr versprochen hatte, als sie zuerst in seinem Haus betete. Dies war die Ganzheit, das Einssein, die Ehre, die er gelobt hatte.
Sie erkannte Tarns vertrautes Rascheln, bevor seine grünschwarzen Schwingen ihre Seele erfüllten.
12
Rani lauschte, wie die Glocken über Brianta hinweg erschallten, jeder metallische Klang wie der Schmerz hinter ihren Augen widerhallend. Sie verschränkte die Hände, während sie aus dem Fenster sah, ignorierte das Flüstern ihrer trockenen, bestäubten Haut. »Lass mich meinen Umhang holen, Mair. Wir können zu Nomes Heiligtum zurückgehen und sehen, ob die Priester uns weiterhin helfen können.«
Tovin antwortete, bevor Mair etwas erwidern konnte. »Du solltest bei Sonnenaufgang im Gildehaus sein.«
»Ich kann die Prüfung nicht ablegen. Laranifarso ist wichtiger.«
»Das ist lächerlich«, sagte Tovin, und Mair keuchte.
Rani fuhr zu ihm herum, Zorn ihre Worte befeuernd wie die Nadelstiche, die ihre Handflächen peinigten. »Laranifarso ist ein hilfloses Kind! Außerdem geht diese Prüfung jetzt über meinen Verstand. Wie könnte ich nach dem, was ich vor zwei Wochen gesehen habe, daran denken, sie zu absolvieren? Berylina wurde vor meinen Augen ermordet, von den Fanatikern in dieser Stadt ermordet!«
Sie hatte einen Schwur gebrochen. Sie hatte versprochen, dass sie Berylina befreien oder bei dem Versuch sterben würde, und sie hatte keines von beidem getan. Anstatt sie von der Kurie freizukämpfen, anstatt Wahrheit und Kraft zu bezeugen, hatte Rani hilflos zugesehen,
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