Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
in ihren Knien, ihrer Seite, ihrem Arm.
Die Nachtigall sang zu ihr, und sie wusste, was sie tun musste. Sie umklammerte die Hände des Vaters, festigte ihren Griff zu stahlharten Seilen. Er zog sich bestürzt zurück, als hätte noch niemals zuvor jemand seine Autorität in Frage gestellt. Dann, bevor er nach Verstärkung brüllen konnte, bevor er neue Forderungen stellen konnte, bevor er den Tod seines Sohnes garantieren konnte, beugte sich Berylina über den Jungen.
Die Nachtigall sagte ihr, was sie tun musste. Sie sang zu ihr davon, dass sie ihre Lippen auf die des Kindes legen sollte. Sie sang davon, dass sie den Friedenskuss ausführen sollte, den Kuss der Kraft und Liebe und immerwährenden Hingabe. Sie sagte ihr, dass sie mit dem Kuss Wasser schmecken würde, dass sie den Springbrunnen schmecken würde, dass sie unmittelbar den Glanz Mips trinken würde.
Sie küsste den Jungen fest, inniger, als sie jemals ein anderes Wesen geküsst hatte.
Und dann setzte sie sich auf die Fersen zurück.
Einen Moment lang geschah nichts. Die Pilger schwiegen bestürzt. Der Vater sammelte seinen Zorn, sammelte ihn in seinen harten Fäusten. Die Mutter wehklagte noch immer – sie hatte niemals aufgehört. Pater Siritalanu sah Berylina bestürzt an, eindeutig besorgt um ihre Sicherheit.
Und dann hustete das Kind. Zuerst ein Spritzen, und dann noch eins und noch eins. Sein Körper krümmte sich, während er in Krämpfe verfiel, tiefe Zuckungen, die Wasser hervorbrachten, wo die Fäuste seines Vaters nichts genutzt hatten.
Der Nachtigallengesang stieg im Hof auf, hallte so laut von dem Stein und dem Wasser wider, dass sich Berylina sicher war, dass alle Pilger ihn hören mussten. Sie warf in reiner Freude an der Musik den Kopf zurück, in reinem Frohlocken über den ungezähmten Klang.
»Das Kind ist gerettet!«, rief Pater Siritalanu aus.
»Dank sei all den Tausend Göttern!«, rief ein anderer Pilger.
»Dank sei Mip«, sagte Berylina und zwang ihre Stimme an der vollkommenen Schönheit der Nachtigall vorbei.
»Mip hat meinen Sohn zu töten versucht!«, rief die Mutter.
»Mip hat ihn gerettet«, sagte Berylina.
»Der Gott des Wassers hat ihn unter die Oberfläche gezogen…«
»Er ist ausgeglitten!«
»Mip wollte meinen Sohn nehmen! Er wollte mein Kind töten!«
»Ihr Junge hat sich das selbst zugefügt. Er gelangte in die Mitte des Springbrunnens, glitt aber auf dem Rückweg aus.«
»Und vermutlich hat Mip Euch diese Lügen persönlich erzählt!«
Berylina erschreckte der Zorn im Gesicht der Mutter, die reine Wut, die in ihr brannte. Die Prinzessin sah sich auf dem Hof um, suchte die Priester, die Glasmaler, irgendjemanden, der verstehen würde. »Habt Ihr es nicht gesehen? Habt Ihr ihn nicht um Hilfe rufen hören?«
Stille, und dann trat eine alte Frau vor. »Ich habe Euch gesehen«, sagte sie. Berylina erkannte die Stimme. Die alte Frau von Jairs Geburtsort. Die Frau, die vor Zorn darüber gezittert hatte, dass das Spielzeug des Ersten Pilgers zu ihr gekommen war. »Ich habe Euch gesehen. Ihr habt den Jungen unter die Oberfläche des Teiches gedrückt.«
Die Menge explodierte. »Nein!«, protestierte Berylina. »Er stürzte! Ich habe ihm in die Sicherheit geholfen! Mip hat zu mir gesungen, und ich habe das Kind gerettet!«
Der Vater trat zu seinem Sohn, bevor jemand sprechen konnte. »Sage mir, Chavit. Spricht diese Frau die Wahrheit? Bist du in die Mitte des Springbrunnens gegangen?«
Berylina konnte sehen, wie sich die Finger des Mannes zu einer Faust ballten. Sie hörte den Zorn in seiner Stimme, die kaum unterdrückte Angst und den Zorn. Chavit war kein Narr – er hörte die Empfindungen ebenfalls. »Ich… ich weiß nicht, was geschehen ist.« Er hielt inne, um zu husten, und das Misstrauen der Menge verstärkte sich, während die schmalen Schultern des Kindes zuckten.
»Bist du ins Wasser gegangen?« Der Vater ragte über dem Jungen auf, seine Stimme so scharf wie die Steine im Springbrunnen.
»Nein! Papa, nein! Ich habe darauf gewartet, dass du und Mama eure Opfer an Mip zu Ende darbrachtet! Ich wartete am Springbrunnen, genau wie du es mir gesagt hast.«
»Wie bist du dann ins Wasser gelangt, Junge?«
»Ich weiß es nicht!« Das Kind begann zu weinen, und sein Schluchzen bewirkte einen weiteren Hustenanfall. Als er wieder sprechen konnte, wiederholte er: »Ich weiß es nicht!«
»Lüg mich nicht an, Junge! Nicht hier. Nicht in Brianta, vor den Tausend Göttern!«
»Ich lüge nicht! Ich
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