Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
eine widerspenstige Haarlocke aus dem Gesicht. Einige wenige Strähnen lösten sich unter ihren Fingern, aber sie hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Der junge Priester vor ihr war unruhig, so stark angespannt, dass er wirkte, als wolle er weinen. »Was ist los, Pater?«
»Ihre Hoheit. Prinzessin Berylina.« Der Mann keuchte stark, und Rani konnte seine Worte kaum verstehen. Sein Gesicht hob sich karmesinrot von seinem hellroten Gewand ab, und seine Brust hob und senkte sich, als wäre er den ganzen Weg von Morenia gelaufen.
Rani spürte, wie das Blut aus ihren Wangen wich, und zwang sich, schwer zu schlucken, bevor sie sagte: »Beruhigt Euch, Pater.« Sie wünschte, sie könnte ihm Wein anbieten, irgendetwas Stärkendes, aber das konnte sie nicht, da sie durch ihre Glasmalerschwüre gebunden war. »Setzt Euch, Pater. Nein, ich will kein Wort mehr hören. Es nützt nichts, wenn Ihr hier auf dem Boden zusammenbrecht.«
Der Mann verzog das Gesicht, kam der Aufforderung aber nach und warf sich in einen niedrigen Sessel. Als er zu Rani hochblickte, zeigte seine Miene Gereiztheit. Er wirkte wie ein kleiner Junge.
Ein kleiner Junge würde jedoch keine so ernste Nachricht übermitteln: »Es ist Prinzessin Berylina«, sagte er, seine Worte in einem Normalität ähnlichen Tonfall hervordringend. »Sie wurde als Hexe eingesperrt.«
»Als was?« Rani hätte das Wort noch nie gehört haben können, so erstaunt war sie. Eine Pilgerin, gewiss. Ein selbstgerechtes Mädchen. Eine wichtigtuerische, religiöse Fanatikerin. Aber eine Hexe? Wie die Kräuterhexen von Sarmonia? Wer würde sich die Mühe machen, eine Frau einzusperren, die Kräuter trocknete und Heiltränke braute? Und warum sollte jemand Berylina – Berylina! – fälschlicherweise für eine Kräuterhexe halten? »Da muss ein Irrtum vorliegen!«
»Natürlich liegt ein Irrtum vor!« Die Stimme des Priesters brach beim letzten Wort. »Sie beschuldigen sie, Magie angewandt zu haben, weil sie nicht erkennen können, dass die Götter tatsächlich zu ihr sprechen! Sie haben nicht erkannt, dass die Rettung Mips Werk war. Er war wirklich da!«
»Mip?« Rani konnte den Zusammenhang der Worte des Priesters nicht erkennen. Welche Rettung? Wann?
»Ja, Mip. Der Gott des Wassers. Wir waren heute Morgen in seinem Tempel.«
Der Priester erzählte etwas über die Pilgerrolle der Prinzessin und Springbrunnen und ein Kind und eine alte Frau, und eine Kugel. Rani verstand nicht wirklich alles, was er sagte – er sprach wieder hastig. Er stand auf, um im Raum hin und her zu gehen, und verschränkte die Finger, als wollte er seine Gelenke zu einer Waffe formen. Ranis Kopf begann zu schmerzen, ein langsames, stetiges Pochen, das wie die Pilgerglocke zu Hause hinter ihren Augen hämmerte.
»Pater«, unterbrach Rani ihn schließlich, »wo ist sie jetzt? Wo ist Prinzessin Berylina?«
Er blinzelte, als hätte er sich gerade erst erinnert, dass Rani im Raum war. »Sie ist im Gefängnis. Im Misthaufen der Götter.«
Rani hielt den Atem an, kurzzeitig von ihren Erinnerungen daran überwältigt, in einen Kerker geworfen worden zu sein. Sie konnte sich selbst jetzt, im briantanischen Sonnenschein, an den Gestank des durchtränkten Strohs erinnern, an den üblen Geruch zu vieler Körper auf zu wenig Raum. Sie konnte andere Gefangene sie mit Misstrauen, mit Hass betrachten sehen. Sie konnte den Schmutz auf ihrer Haut spüren, den anwidernden Schleim des Speichels eines anderen Menschen.
Berylina würde es im Gefängnis niemals aushalten. Sie war eine Prinzessin. Sie war mehr als nur ein bisschen einfältig. Sie war nicht auf die grausame Realität der Strafverfolgung vorbereitet. »Wir müssen zu ihr gehen!«
Noch während Rani ihre Werkstatttür schloss, wurde ihr bewusst, dass sie Gesellin Larinda suchen sollte. Sie sollte erklären, warum sie ihre Arbeit unvollendet zurückließ. Rani hatte immerhin geschworen, den Befehlen der Gilde in allen Dingen zu folgen. Sie sollte ihre Zeichnung bis Einbruch der Nacht fertigstellen. Gleich am nächsten Tag sollte sie das Schneiden des Glases üben. Die Zeit für ihre Vorbereitung auf die Gildeprüfung war knapp bemessen.
»Es gibt Verpflichtungen, und es gibt Verpflichtungen«, schimpfte Rani vor sich ihn. Es war leichter, jetzt die Beschränkungen der Gilde zu ignorieren und sich um die Prinzessin zu kümmern. Sie konnte sich Larinda später erklären, und wenn nötig auch Meister Parion. Rani war an Berylina gebunden – Hal
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