Die Glasfresser
mich sieht, mich um Entschuldigung bittet und Scarmiglia um Entschuldigung bittet, und wir brauchen den ganzen Weg bis zur Via Imperatore Federico, um ihn zu beruhigen -, und wir gehen zur Fiera del Mediterraneo.
Dieser Jahrmarkt, die Fiera del Mediterraneo, ist ein Geisteszustand, eine der Formen, die Langeweile annehmen kann, ein Voranschieben ohne Gehen, höchstens ein Sichbewegen, bei dem man vielleicht gerade einmal den Stand mit dem Spanferkel und den Autoskooter mitbekommt.
Denn so ist die Fiera del Mediterraneo jedes Jahr.
Spanferkel. Autoskooter. Der Geruch nach Gebratenem. Zuckerwatte. Der Stand der italienischen Armee. Die ständigen Rempeleien. Das Hexenhaus. Die Achterbahn mit drei parabelförmigen Hügeln. Die zertretenen Zwiebeln der Hotdogs. Fratzen, Grimassen, Clowns. Schweiß auf der Brust und auf dem Rücken. Kippen von MS-Zigaretten und haufenweise Plastikbecher. Katzen, die zwischen den Abfällen nach Essen suchen. Der Pingpongball, den man in die kleine Wanne werfen muss, um den Goldfisch zu gewinnen. Der gewonnene Goldfisch in dem durchsichtigen Plastikbeutel mit Wasser. Der Goldfisch, der stirbt, weil es zu heiß ist. Der Goldfisch, den man zwischen die Kippen und die Becher fallen lässt oder in einen Blumenkübel. Die Traktoren. Die Bagger. Gehen, essen, irgendetwas kaufen. Eine Toilette finden. Zum angestrahlten Castello Utveggio auf dem Monte Pellegrino hochschauen:
dem Nebenmann einen Klaps auf die Schulter geben, damit er hochschaut.
Dies, all dies jedes Jahr tun.
Wir lösen Eintrittskarten und gehen hinein. Wir biegen in den ersten Gang ab und sehen den Leuten ins Gesicht. Scarmiglia und ich voran, Bocca einen halben Schritt seitlich hinter uns. Scarmiglia und ich sind schön und sinnlich, wir sind angezogen, fühlen uns aber halb nackt, wie von einem Blitz erhellt. Die Leute erwidern unseren Blick, doch da sind gleich Spannung und Verteidigung, man gibt sich Zeichen, folgt uns aus den Augenwinkeln und dreht sich dann um. Die Alten halten uns für unheilbar, die Jungen beschimpfen uns in Dialekt.
Wir machen halt, um an einem Stand Wasser zu trinken. Bocca betrachtet die grünen Glasscherben einer zerbrochenen Flasche auf dem graukörnigen Asphalt. Dann sieht er uns wieder an, und in seinen Augen sind Eifersucht und Neid und Liebe und noch immer eine endlose Rührung.
Wir kehren in den Gang zurück. Wir wissen, dass man gestern Abend hier einen Toten gefunden hat, wir haben es in der Zeitung gelesen, wir wollen sehen, wo.
Wir gehen hinter den Pavillon mit den Traktoren. Von der anderen Seite dringen Lärm und das Licht der Lämpchen herüber, doch alles ist gedämpft, Lärm und Licht. Es ist ein enger Raum, auf der einen Seite begrenzt vom blauen Blech des Pavillons, auf der anderen von einem Stück der Einfriedungsmauer. Der Tote war ein Junge, der mit einer Eintrittskarte hier hereingekommen ist. Er hat irgendjemanden getroffen, hat irgendwas gegessen, hat geschaut und geplaudert, dann ist er hier hinten hingegangen und hat sich einen Schuss gesetzt. Das Heroin war mit Kalk verschnitten, und er ist gestorben. In der Zeitung hieß es, er habe Jeans und ein Hemd getragen. Schwarze Dr. Scholl’s. Ein Bändchen ums Handgelenk.
Bocca möchte etwas sagen, doch er bewundert unsere leuchtenden Schädel und sagt nichts. Wir betrachten das kleine Stück Asphalt und versuchen uns den exakten Ort vorzustellen, wo der
Tote lag. Dann gehen wir wieder unter die Leute, um unsere Knochen unter dem zarten Samt der Haut zur Schau zu stellen, den Stolz der kahlen Schädel.
Wir sind beunruhigend, und wir sind stolz darauf. Das war die Erfahrung, die wir suchten. Denn Jungen ohne Haare, bei denen die Knochen des Schädels klar und deutlich zu sehen sind, man die Furchen zwischen den Platten mit den Fingern nachfahren kann, eine Linie nach der anderen, solche Jungen sind beunruhigend und gefährlich. Ich war unsympathisch, und jetzt bin ich beunruhigend. Ich war feindselig und bin beunruhigend. Nicht ein unruhiger beunruhigender Junge, ein ruhiger beunruhigender Junge. Die Leute begegnen mir, schauen mich an und wissen nicht, dass sie mit mir auch meinen Nimbus angeschaut haben, meinen Kreis des Lichts und der Erwählung. Sie wissen es nicht, doch die Leute wissen gar nichts.
Während wir uns unter die Leute mischen, sehen wir nur vom Dialekt zerfleischte Gesichter - der Dialekt explodiert in den Mündern und zerfetzt die Gesichtszüge, er wird erzeugt im Dunkel der familiären Bindungen, im
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