Die Glasglocke (German Edition)
während ich ihm »Somewhere I have never travelled« und andere Gedichte aus einem Buch, das ich mitgebracht hatte, vorlas.
Buddy meinte, irgendwas müßte an der Lyrik ja dran sein, wenn ein Mädchen wie ich den ganzen Tag damit verbrachte, deshalb las ich ihm jedesmal, wenn wir uns trafen, ein paar Gedichte vor und erklärte ihm, was ich an ihnen fand. Es war Buddys Idee gewesen. Er arrangierte unsere Wochenenden immer so, daß wir keine Zeit vergeudeten. Buddys Vater war Lehrer, und ich glaube, Buddy hätte auch das Zeug zum Lehrer gehabt, immer versuchte er mir alles mögliche zu erklären und mir neues Wissen zu vermitteln.
Als ich mit einem Gedicht zu Ende war, sagte er plötzlich: »Esther, hast du schon mal einen Mann gesehen.«
Daran, wie er es sagte, erkannte ich, daß er nicht einen gewöhnlichen Mann oder einen Mann im allgemeinen meinte, ich wußte, er meinte einen nackten Mann.
»Nein«, sagte ich. »Nur Statuen.«
»Würdest du mich vielleicht gern mal sehen?«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Meine Mutter und meine Großmutter hatten in letzter Zeit angefangen, allerlei Andeutungen zu machen, was für ein netter, ordentlicher Junge Buddy Willard doch sei, aus was für einer netten, ordentlichen Familie er komme, und wie alle in der Kirche ihn für einen vorbildlichen jungen Mann hielten, so freundlich zu seinen Elternund zu älteren Menschen, und auch so sportlich, so ansehnlich, so intelligent.
Ich hatte immer wieder gehört, wie nett und ordentlich Buddy sei, jemand, für den ein nettes, ordentliches junges Mädchen bleiben sollte, wie es war. Deshalb konnte ich an irgend etwas, das Buddy sich einfallen ließ, nichts Böses finden.
»Also gut, warum nicht?« sagte ich.
Ich sah zu, wie Buddy den Reißverschluß seiner Hose öffnete, wie er sie abstreifte und auf einen Stuhl legte und wie er seine Unterhose auszog, die aus einer Art Nylon-Fischnetz gemacht war.
»Sie ist kühl«, erklärte er, »und meine Mutter sagt, sie läßt sich leicht waschen.«
Dann stand er vor mir, und ich starrte ihn an. Mir fiel nichts anderes ein als Truthahnhals und Truthahnmagen, und ich war sehr niedergeschlagen.
Buddy schien gekränkt, weil ich nichts sagte. »Ich glaube, du solltest dich auch so an mich gewöhnen«, sagte er. »Und nun laß mich dich ansehen.«
Aber mich vor Buddy auszuziehen reizte mich plötzlich ungefähr so wie das Ausziehen für die Aufnahme im College, bei der man sich nackt vor eine Kamera stellen muß und die ganze Zeit über weiß, daß ein Foto, auf dem man splitternackt dasteht, frontal und von der Seite, in die Akten der Sportabteilung des College kommt und dort mit einem A, B, C oder D versehen wird, je nach Körperbau.
»Lieber ein anderes Mal«, sagte ich.
»Na schön.« Buddy zog sich wieder an.
Dann küßten wir uns und schmusten eine Weile, und ich fühlte mich etwas besser. Ich trank den Rest Dubonnet, setzte mich im Schneidersitz an das Ende von Buddys Bett und bat um einen Kamm. Ich fing an, mir das Haar nach vorn zu kämmen, so daß Buddy mein Gesicht nicht sehen konnte. Plötzlich fragte ich: »Hast du schon mal ein Verhältnis gehabt, Buddy?«
Ich weiß nicht, wie ich darauf kam, die Wörter plumpsten mir einfach aus dem Mund. Nicht im Traum dachte ich daran, daß Buddy Willard ein Verhältnis haben könnte. Ich erwartete, daß er sagte: »Nein, ich habe mich immer aufbewahrt für die Zeit, wenn ich ein unberührtes Mädchen, eine Jungfrau wie dich heiraten werde.«
Aber Buddy sagte nichts, er wurde nur rot.
»Na, hast du?«
»Was verstehst du unter einem Verhältnis?« fragte Buddy mit tonloser Stimme.
»Du weißt schon, bist du mit jemandem ins Bett gegangen?« Immer noch kämmte ich mein Haar rhythmisch über die Seite meines Gesichts, die ich Buddy zuwendete, ich spürte, wie die kleinen elektrischen Fäden an meiner Wange klebten, und ich wollte schreien: »Hör auf, hör auf – halt den Mund, sag nichts.« Aber ich schrie nicht, ich blieb einfach still.
»Ja, schon«, sagte Buddy schließlich.
Ich wäre fast umgekippt. Seit dem ersten Abend, an dem Buddy Willard mich geküßt und zu mir gesagt hatte, ich würde bestimmt mit vielen Jungen ausgehen, hatte er mir immer das Gefühl vermittelt, ich wüßte viel mehr von Sex und sei erfahrener als er, und alles, was er getan hatte, Schmusen, Küssen, Streicheln, sei ihm nur meinetwegen wie von selbst eingefallen, ohne daß er etwas dagegen tun konnte und ohne daß er wußte, woher es kam.
Jetzt
Weitere Kostenlose Bücher