Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
schwer wie Weihrauch durch die Innenräume der Gotteshäuser und hüllten sie in ein mysteriöses Gewand.
Bisher hatte Antonia sich nur an schrecklichen Motiven versucht, an der Apokalypse, der Hölle, dem Fegefeuer, dem Jüngsten Gericht. Sie war eine Glasmalerin, aber sie vermochte nur eine einzige Stimmung auszudrücken: Angst.
Um mehr zu werden als eine Glasmalerin, um eine Glas komponistin zu werden, musste es ihr gelingen, verschiedene Gefühle in einem Raum zu vereinigen, so dass sie sich nicht widersprachen, sondern wie zwei Seiten einer Münze erschienen. Angst gab es nicht ohne Hoffnung, Kummer nicht ohne Freude, Sonne nicht ohne Nacht. Gott hatte einst gesprochen, dass das Licht von der Finsternis geschieden bleiben müsse, aber in den Menschen war es vereint, und so musste es auch in den Schöpfungen der Menschen vereint werden, in den Kunstwerken.
Seit heute erst dachte sie darüber nach und hielt es für möglich, so etwas zu schaffen. Sie stellte sich vor, eine Kathedrale ganz in Blau und Rot zu tauchen, zwei in ihrem Wechselspiel mystische Farben, die sich mit dem Stein der Gewölbe zu einem Geflecht aus Licht und uralter Materie verbinden würde, so dass man beim Eintreten nichts anderes tun konnte, als zu verstummen.
Antonias Tagebuch
Das ist es! Darauf kommt es an! Verstummen! Die Menschen zum Verstummen zu bringen! Er hat mich heute zum Verstummen gebracht. Wie viel Liebe und Zärtlichkeit in einer einzigen Geste liegen kann, im Schweigen. Ich habe mich in dieses Schweigen verliebt, das zwischen ihm und dem Mädchen lag, in diese Hand auf seiner Wange, in seine Augen, als das Mädchen lächelte … Ich muss wahnsinnig sein, ich habe mich in eine Szene verliebt.
Ein ganzes Fenster, dachte sie. Ein ganzes Fenster mit einem einzigen Motiv. Ein sterbendes Mädchen und ein Engel. Das Mädchen berührt den Engel an der Wange, vertraut sich ihm an. Es hat keine Angst, der Engel hat ihr die Angst genommen.
Der Engel hat ihr die Angst genommen. Dieser Satz geht mir immer wieder durch den Kopf. Dabei ist doch der Engel so etwas wie ein Mörder. Schönes und Schreckliches dicht beieinander, Licht und Finsternis vereint. Ich liebe nicht nur die Szene, ich liebe auch die Figur. Ich liebe den Engel.
Sie warf die Feder, mit der sie ihre Tagebucheintragungen gemacht hatte, zur Seite. Ihr Herz pochte heftig. Sieben, acht Atemzüge verstrichen, dann griff sie rasch wieder zur Feder.
Ich liebe Matthias. Ich liebe den alten, jung gewordenen Traum mit Namen Antonia Hagen. Ich sage ihn mir immer wieder vor: Antonia Hagen, Antonia Hagen.
Erneut warf sie die Feder auf den Tisch, dann sogar zu Boden. »Verflucht«, rief Antonia. »Verflucht, verflucht, verflucht.«
Sie sehnte sich nach Matthias, nach seinen kräftigen Händen, dem entschlossenen Mund, den Augen, dem Geschlecht. Sie sehnte sich danach, auf oder unter ihm zu liegen. Ihn endlich zu besitzen, diesen Körper, diesen alten Traum, das war ihr größter Wunsch.
Und trotzdem schlich sich immer wieder Sandro Carissimi in ihre Gedanken, diese Szene mit dem Mädchen, diese Schönheit. Was war das, was hatte das zu bedeuten?
Antonia war aufgewühlt, überreizt. Ihr Kopf brauchte dringend Ruhe, Ordnung, ein Ziel. Nur drei Methoden konnten diesen Zustand beheben: das Tagebuch, sinnliche Liebe oder Glas. Das Erste hatte sie vergeblich versucht, das Zweite war im Moment nicht möglich.
Antonia schüttelte alles von sich ab, stand auf, erhitzte ein scharfes Brenneisen im Kamin und setzte es an die rubinrote Glasplatte, die auf dem großen quadratischen Tisch bereitlag. Für ihr erstes nichtapokalyptisches Fenster brauchte sie zunächst einen purpurnen Himmel, den sie auf dem Glas bereits vorgezeichnet hatte. Mit der spitzen Kante des erhitzten Eisens fuhr sie vorsichtig die Linien entlang, und wie beabsichtigt brach an diesen Stellen das Glas. Der klirrende Ton, wenn dies geschah, glich dem eines Eiszapfens, den man in heißes Wasser eintauchte. Antonia liebte dieses Geräusch. Etwas, das bisher nur in ihrem Kopf passiert war, nahm erste Gestalt an, und das war ein gutes Gefühl. Während sie arbeitete, vergaß sie die Männer, alle Männer. Es gab nur Antonia und das Glas. Ein einziges Mal binnen einer Stunde wichen ihre Gedanken kurz von dem Glas ab, und das war, als sie sich um Carlotta sorgte.
Wo war sie? Wieso hatte sie bezüglich Bertani gelogen, als sie sagte, sie sei in jener Nacht bei keinem Mann gewesen? War der Verdacht gegen
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