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Die Glücksparade

Die Glücksparade

Titel: Die Glücksparade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Martin Widmann
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aufgestanden, und jetzt zwängte sie sich aus dem engen Spalt zwischen Tisch und Bank. Sie fummelte an dem Tuch um ihren Hals, löste es und legte es von neuem um.
    «So», sagte sie. «Gute Nacht allerseits.»
    Ich schaute auf die Uhr, es war fünf Minuten nach elf. Lorna stakste im Dunkeln davon.
    «Sie braucht ihren Schönheitsschlaf», sagte meine Mutter nach einer Minute mit kippender Stimme. Aber weil alle anderen verstummt waren, war es gut zu verstehen. Dann folgte eine weitere Pause, in der nur das Zirpen der Grillen zu hören war. Es klang wie eine Rassel, die langsam und regelmäßig geschüttelt wurde. Zum ersten Mal war ich Klaus dankbar dafür, dass er den Mund aufmachte.
    «Wir sind schon schön», sagte er. «Wir haben Glück gehabt.» Waldemars Freundin kicherte nach diesem Satz.
    «Darauf trinken wir», jauchzte sie. Sie prostete allen zu. Trotzdem erhoben sich ein paar Minuten darauf auch Horst und Aleki. Mein Vater rief ihnen zu, bis Mitternacht müssten sie noch durchhalten, dann gebe es eine Überraschung.
    «Da sind wir aber gespannt», sagte Aleki. Sie tauschte einen langen Blick mit Horst, so lange, dass ich selbst von meinem Platz aus nicht übersehen konnte, dass sie sich dadurch stumm verständigten, und offenbar einigten sie sich, noch zu bleiben, denn sie setzten sich wieder.
    Um kurz vor zwölf erklärte mein Vater, unter den Gästen des Abends sei einer, der in wenigen Augenblicken Geburtstag habe, und alle sollten raten, um wen es sich handele. Mit dieser Ankündigung schaffte er es, die Unterhaltung noch einmal zu beleben, auch wenn Bubi schon bald sagte, das müsse wohl der Junior sein.
    Mein Vater ging zu ihm hinüber, fasste seinen Arm und hob ihn in die Höhe. «Champion», sagte er, und jetzt erkannte ich die Geste, die ich nach Boxkämpfen im Fernsehen schon gesehen hatte. Klaus stimmte
Happy Birthday To You
an, und die anderen fielen etwas verhalten ein, sangen eine Strophe und lachten dann durcheinander. Der Reihe nach drückten sie mich an sich oder gaben mir die Hand.
     
    Am nächsten Morgen frühstückten wir mit Kaffee und Kuchen aus der Bäckerei vor dem Container. Erik brütete vor sich hin und stülpte dabei den Mund nach vorn und drückte die Backen so zusammen, dass seine Augen fast verschwanden. Seine Haare waren platt gedrückt, und er gähnte. Weniger geschlafen als ich hatte er sicher nicht. Statt zu zelten, hatten wir eine Luftmatratze neben mein Bett gequetscht, auf der hatte Erik gelegen, und ich hatte gehört, wie er schnarchte, während es draußen hell wurde und die Vögel sich zu rühren begannen. Jetzt brannten meine Augen, und ich wäre lieber allein gewesen. Keiner wusste viel zu sagen, und mir fehlte der Appetit. Ich schaffte nicht mehr als ein Stück Apfelkuchen. Irgendwann überreichte Erik mir ein flaches Paket von der Größe einer Zeitschrift. Das Papier, in das es eingewickelt war, war dunkelblau und glänzend.
    «Soll ich es gleich aufmachen?», fragte ich.
    «Wie du willst», sagte Erik.
    Ich riss das Papier so auf, dass ich das Heft herausziehen konnte wie aus einer Schutzhülle. Es war nicht dick. Die Zeichnung auf dem Umschlag zeigte drei Männer in der Wüste. Über ihren Köpfen ein blaues Propellerflugzeug, am linken Rand ein Kaktus, auf dem ein Geier saß. EIN FALL FÜR JEFF JORDAN stand darauf und in einem zweiten Kasten darunter: DURCH DIE HÖLLE VON MASSACARA .
    «Ein Comic?», fragte ich, obwohl ich es selbst sehen konnte.
    «Ja», sagte Erik.
    Ich bedankte mich, blätterte ein wenig darin herum und legte das Heft zur Seite, als mein Vater an seinen Becher klopfte. Er bat um Aufmerksamkeit, als wollte er eine Rede halten, stand auf und kam mit einem silbergrauen Rennrad hinter dem Container wieder hervor, meinem Geburtstagsgeschenk. Es war auf den ersten Blick zu sehen, dass es kein neues Fahrrad war, und obwohl ich nicht damit gerechnet hatte, deprimierte mich die Vorstellung, dass mein Vater durch irgendeine Kleinanzeige auf dieses Rad gestoßen war und wahrscheinlich den Preis noch um zehn oder zwanzig Euro heruntergehandelt hatte.
    «Mit einer Harley kannst du ja noch nichts anfangen», sagte er.
    Ich fuhr ein paarmal um die Tische, bis zur Schranke und zurück, und nachdem auch Erik eine kleine Runde gedreht hatte, sagte er, er müsse bald gehen.
    Meine Mutter brachte Erik mit dem Auto in die Stadt. Es bewölkte sich, und gegen Mittag begann es zu regnen. Die Tropfen waren dick wie Weintrauben, und sie fielen auf die Tische und

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