Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
Zeitungsausschnitte noch aufbewahrte?
Emma erinnerte sich noch ziemlich gut an die Atmosphäre damals. Es war im Frühjahr, als ihr Vater blass und angespannt nach Hause kam. Dann hatten sich ihre Eltern das erste Mal auf eine Weise gestritten, die noch über Wochen anhalten sollte. Es endete mit Türen schlagen und Tränen, genau wie ihre beste Freundin Brigitte es vorausgesehen hatte. Brigitte hatte die Scheidung ihrer Eltern bereits hinter sich gebracht und sparte nicht mit nüchternen Kommentaren, wenn andere von Streitigkeiten ihrer Eltern erzählten.
Laut ihrem Vater hatte es vorher keine Anzeichen für eine Trennung gegeben. Die Beziehung sei ohne besondere Höhen und Tiefen verlaufen, sagte er, sei aber seiner Meinung nach so weit in Ordnung gewesen. Doch als er im Internat nach dem Selbstmord des Mönchs immer weiter unter Druck geraten sei, habe sich die Stimmung zu Hause zusehends verschlechtert.
Emmas Mutter hatte in Heidelberg beruflich nie Fuß gefasst. Als ihr Mann Schwierigkeiten in der Schule bekam, wollte sie ihn davon überzeugen, mit der ganzen Familie nach Hamburg umzuziehen. Dort war ihr ein Arbeitsplatz in ihrer alten Firma angeboten worden, und sie wollte wieder einsteigen, bevor sie dafür zu alt wurde.
Doch Emmas Vater wollte kein neues Leben. Er war mit seinem alten ganz zufrieden. Er hatte eine gutbezahlte Stelle als stellvertretender Schulleiter und hoffte darauf, eines Tages Schulleiter zu werden. Emmas Mutter redete, drohte, und am Ende weinte sie. Aber er blieb hart. Und dann ging sie ohne ihn. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Kinder sich für Heidelberg und ihren Vater entscheiden würden.
Emma und ihre zwei Jahre ältere Schwester Andrea hatten sich vor dem Familienrichter dafür ausgesprochen, bei ihrem Vater bleiben zu dürfen. Sie konnten sich nicht vorstellen,ihre Schule und ihre Freundinnen zu verlassen, um zusammen mit ihrer Mutter nach Hamburg zu ziehen. Ihre Eltern hatten nie geheiratet, aber sich vor Jahren für das gemeinsame Sorgerecht entschieden. Und so wohnte Gerhard Lehmann auch weiterhin zusammen mit seinen beiden Töchtern, die den Namen ihrer Mutter trugen, in ihrem Reihenhaus in Dossenheim bei Heidelberg.
Marianne Prinz ging zurück nach Hamburg und stieg in den Vertrieb ihrer alten Firma ein, ein medizintechnisches Unternehmen. Zwei Jahre später wurde sie bewusstlos in einem Hotel in Madrid aufgefunden. Sie hatte dort das neue Gerät ihrer Firma bei einem internationalen Unternehmen vorgestellt. Wenige Stunden nach ihrer Einlieferung in ein Madrider Krankenhaus starb sie, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. In ihrem Blut fand sich eine tödliche Mischung aus Antidepressiva, Aufputschmitteln, Schlafmitteln und Alkohol. Da sie keinen Abschiedsbrief hinterlassen hatte, blieb offen, ob es ein Unfall oder Selbstmord war.
Emma hatte sich immer mitschuldig gefühlt an ihrem Tod. Sie wusste, dass es keinen Grund dafür gab. Ihre Mutter hatte selber entschieden, die Familie zu verlassen und nach Hamburg zu gehen. Aber Emma war sicher, wenn sie und Andrea mit ihr gegangen wären, dann würde sie heute noch leben.
Emma richtete sich auf und zog einen der Vorhänge zur Seite. Sie blickte hinunter auf den träge dahinfließenden Strom. Die Sonne stand bereits hoch und warf ihre Strahlen über den Bingener Mäuseturm und seine kleine Insel mitten im Rhein.
Hatte der Selbstmord des Mönchs nicht doch bei der Trennung ihrer Eltern eine Rolle gespielt? Die Frage hatte sie sich als Teenager oft gestellt. In den vergangenen Jahrenhatte sie kaum noch darüber nachgedacht. Und hier war sie wieder, unverhofft und wie aus dem Nichts: Hatte es doch eine Verbindung gegeben zwischen dem Selbstmord und den Streitigkeiten zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater? Warum sonst hätte sie diese Konsequenz daraus ziehen sollen? Zufall? In ihrem Beruf hatte Emma gelernt, dass es weitaus seltener echte Zufälle gab, als viele glauben wollten.
Emma starrte nach oben und horchte auf die Geräusche, die von draußen hereindrangen. Das Schlagen von Autotüren, Husten, Lachen. Sie zog ihr Handy zu sich her, das sie auf der geschlossenen Kochnische abgelegt hatte. Es war Montag kurz vor halb acht, eigentlich müsste ihr Vater schon in der Schule sein. Trotzdem öffnete sie das Telefonbuch ihres Handys und klickte seine Nummer an.
Während sie auf das Freizeichen wartete, überlegte sie, wann sie ihren Vater das letzte Mal gesehen hatte. Obwohl sie in derselben Stadt
Weitere Kostenlose Bücher