Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
Haifischflosse aus dem Wasser.
»Das war im Internat ›Hildegard von Bingen‹ bei Heidelberg«, sagte Emma mit belegter Stimme.
Paul zog die Augenbrauen hoch. »Woher weißt du das?«
Emma starrte auf den Bildschirm, den der tote Körper einer Frau ausfüllte, die sie als Kind einmal gesehen hatte. Sie hob den Kopf und blickte zu Paul hinüber. Plötzlich spielte ihr Magen verrückt. Sie stand auf, kletterte aus dem Bus und stolperte in die Nacht hinaus.
Emma stürzte eine halbe Flasche Wasser hinunter, um den bitteren Geschmack in ihrem Mund loszuwerden. Paul beobachtete sie nachdenklich. Er kramte in seiner Tasche und hob ihr eine Tüte Fisherman’s entgegen. Dankbar griff Emma danach.
»Was hat diese ganze Geschichte mit dir zu tun?«, fragte Paul.
»Absolut nichts.« Emma warf einen Blick auf ihren Bildschirm, wo die Tote noch immer in hoher Auflösung zu sehen war. Sie schloss das Bildbearbeitungsprogramm und fuhr den Rechner herunter.
»Das war die richtige Entscheidung«, sagte Paul und warf ihr einen Blick zu. »Sei froh. Du hättest mit dem Foto deine berufliche Karriere beendet. Ziemlich sicher sogar.«
»Der Pauschalistenvertrag hätte mir überhaupt erst ermöglicht, weiterhin als Journalistin zu arbeiten«, erwiderte sie bitter.
»Woher weißt du das mit dem Internat?«, fragte Paul.
»Mein Vater war zu der Zeit Deutschlehrer im Internat und stellvertretender Schulleiter. Inzwischen ist er Schulleiter dort.«
»Gibt es irgendeinen Grund, dir deshalb Sorgen zu machen?«, fragte Paul.
Emma sah ihn nachdenklich an und stand auf. »Ich muss ins Bett.« Sie räumte den Tisch frei. »War ein harter Tag.«
Paul musterte sie skeptisch. Dann griff er nach seiner Tasche, schnappte sich seinen Laptop und klemmte sich beides unter den Arm.
»Schlaf gut«, sagte er und lächelte besorgt. »Ich fahr jetzt zurück nach Mannheim. Wenn was ist – du kennst meine Nummer.«
»Danke dir«, murmelte Emma und warf ihm einen warmen Blick zu. Sie baute den Tisch zu einem Bett um undkletterte ein letztes Mal aus dem Bus, um sich im hohen Gras der angrenzenden Wiese zu erleichtern. Für Notfälle hatte sie ein Chemieklo dabei.
Emma kletterte in den Bus zurück, zog rundum die Vorhänge zu und legte sich schlafen. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Nach einer Weile setzte sie sich auf und zog den dünnen Vorhangstoff beiseite, so dass sie den Rhein sehen konnte. Die Nacht war sternenklar. Sie konnte im Mondschein den träge dahinfließenden Strom erkennen.
Emma griff nach dem Laptop, den sie für die Nacht auf dem niedrigen Schränkchen neben der Spüle deponiert hatte. Sie fuhr ihn hoch und loggte sich in das Redaktionssystem der
Lupe
ein. Dann ließ sie sich den Artikel anzeigen, den sie am Nachmittag über die Leiche im Kloster geschrieben hatte. Viel war es ohnehin nicht, was bisher über die Tote und den Mord bekannt war. Paul hatte ihr noch ein paar Details von der Pressekonferenz mitgebracht, aber der Artikel lebte mehr von der Beschreibung der Umgebung und dem geschichtlichen Hintergrund des Klosters als von Fakten über den Mord.
Nachdenklich betrachtete Emma den leeren Rahmen, in dem noch vor kurzem das Foto gestanden hatte. Nur einen Klick war sie davon entfernt gewesen, es für den Druck freizugeben.
Sie wechselte zum Bearbeitungsmodus. Die Statuszeile verriet ihr, dass Kohler den Text akzeptiert hatte, auch ohne Foto. Sie loggte sich wieder aus und suchte auf ihrer Festplatte nach dem unbearbeiteten Bild. Nach einem Klick baute es sich vollständig auf. Emma betrachtete die tote Frau darauf. Nun, da sie wusste, wer sie war, schien es ihr fast so, als könnte sie diese Frau wiedererkennen.
Es war ziemlich genau zwanzig Jahre her, dass sie der Frau einmal begegnet war. Sie selbst war damals dreizehn Jahrealt gewesen. Doch die Ereignisse hatten sich tief in ihr Gedächtnis gegraben, da sie ihr gesamtes Leben verändert hatten. Nach dem Selbstmord des Mönchs geriet ihr Vater ziemlich schnell ins Kreuzfeuer der Kritik. Er war stellvertretender Schulleiter und Ansprechpartner für die Lehrer und den Elternbeirat gewesen. Pater Benedikt war Hildegard-Fan und hatte sich häufiger seiner Liebhaberei gewidmet als seinen Lehrfächern, Biologie und Chemie. Immer wieder erzählten Schüler, dass er in seinem Unterricht vor allem über Hildegard von Bingen und ihre naturwissenschaftlichen Abhandlungen sprach. Ihr Vater hatte Pater Benedikt mehrfach verwarnt und am Ende gedroht, das
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