Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
abgeklungen.
»Ja?«, fragte Schwester Lioba drängend. Sie war noch nicht bereit, sich der Messe zu widmen. Erst wollte sie das ganze Ausmaß des Fehltritts wissen.
»Schwester Adelgund nutzt anscheinend schon seit einigerZeit die Möglichkeit, über das Gästehaus nachts das Kloster zu verlassen. Da sie Schlüssel für die Tür vom Kloster ins Gästehaus hat, ist sie natürlich auch im Besitz der Schlüssel nach draußen. Über diesen Weg trifft sie seit einiger Zeit auch nachts diesen Mann.«
»Und was hat die Frau vom Kiosk damit zu tun?«, fragte Schwester Lioba.
»Schwester Adelgund trifft sich mit ihrem Mann, der sich vor kurzem von der jungen Mutter getrennt hat. Es ist der Vater ihrer Kinder«, sagte Schwester Heidrun entrüstet und presste die Lippen zusammen. Dann senkte sie den Kopf und eilte davon.
Die Rückfahrt nach Bingerbrück war mühsam. Der Osterreiseverkehr hatte eingesetzt, und Emma kam nur mühsam vorwärts. Sie nutzte die Gelegenheit, sich noch mal alle Informationen durch den Kopf gehen zu lassen. Immer wieder landete sie an demselben Punkt: die Handschrift. Die hatte damals schon bei dem Selbstmord des Mönchs eine Rolle gespielt, davon war sie überzeugt, und nun hatte sie wieder ein Menschenleben gekostet. Aber warum?
Emma beschloss, das Nachdenken über das Warum zu verschieben. Hertl war ein bekannter Hildegard-Forscher. Wenn er die Frage nicht beantworten konnte, wer dann?
Vor Emma scherte ein überladener VW-Golf nach rechts auf die Standspur. Eine Schar Kinder ergoss sich auf den Seitenstreifen, gefolgt von einem gestressten Vater. Die Sonne war mittlerweile einem leichten Nieselregen gewichen, und das monotone Geräusch des Scheibenwischers erfüllte in regelmäßigen Abständen den Bus. Emma zog die Freisprechanlage zu sich und drückte den Kurzwahlknopf für Pauls Nummer. Es klingelte einige Male, denn meldete sich Paul mit einem knappen »Hallo, Prinzessin«.
Emma erzählte ihm von ihren Recherche-Ergebnissen in Mainz.
»Und du?«, beendete sie ihren Bericht.
»Ich war in Feudenheim und habe einen Einsatzleiter der Feuerwehr interviewt, der jeden Satz mit einem ›Nicht wahr?‹ beendet hat«, erwiderte Paul und schnaubte.
»Was ist mit dem Mord im Kloster, bist du da noch dran?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Paul zögernd.
»Was ist los?«, fragte Emma. »Gibt’s Stunk mit Winterbauer? Will er nicht, dass du noch mal was darüber machst?«
»Nein«, antwortete Paul, »ich bin mir nur nicht sicher, ob sich das Ganze lohnt.«
»Was ist mit Grieser? Was sagt er zu deiner Karfreitag-These?«
»Er meinte, wegen einer vagen Ahnung bekommt er keinen höheren Personaleinsatz genehmigt«, knurrte Paul.
»Besser vorher als nachher«, murmelte Emma.
»Ich hab ihn gewarnt. Mehr kann ich nicht tun.«
»Und was ist mit euch beiden?«, fragte Emma.
»Was ist mit deinem Vater?«, fragte Paul zurück. »Bist du sicher, dass er dir alles erzählt hat, was er weiß?«
»Was willst du damit sagen?«
In die entstehende Stille drang das rasch lauter werdende Martinshorn eines Rettungswagens. Emma warf einen Blick in den Rückspiegel. Hinter ihr wichen die Fahrzeuge nach links und rechts aus, um in der Mitte eine Gasse frei zu machen. Emma lenkte den Bus nach rechts auf die Standspur und warf einen Blick auf die altmodische Uhr im Armaturenbrett. Es war bereits 18 Uhr 15. Hoffentlich schaffte sie es bis 19 Uhr nach Bingerbrück.
»Was ist los bei dir?«, fragte Paul.
»Stau«, sagte Emma. »Gerade kam ein Sanka vorbei. Das könnte noch eine Weile dauern.«
»Ich bin jetzt bei der Redaktion angekommen«, sagte Paul. »Muss noch die O-Töne einspielen.«
»Was ist mit meinem Vater?« Emma hörte, wie Paul den Motor abstellte. Entferntes Kinderlachen füllte die entstandene Stille.
»Er war damals im Internat, und er war am Abend vor Palmsonntag im Kloster«, sagte Paul.
»Was soll das?«, brauste Emma auf. »Du willst doch nicht ernsthaft meinem Vater was anhängen.«
»Er hatte die Gelegenheit«, sagte Paul ruhig.
»Und das Motiv?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Paul.
»Das ist doch totaler Quatsch!«, rief Emma und konnte trotzdem nicht verhindern, dass sie an das Modell der Tagesschule denken musste. Die Fahrzeuge vor ihr kehrten auf die Fahrbahn zurück. Emma umklammerte das Lenkrad, ihre Hände zitterten.
»Sicher?«, fragte Paul zurück.
»Es geht um die Handschrift, das ist das Einzige, was wir wirklich wissen«, erwiderte Emma eindringlich. »Es gibt einige,
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