Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
zu bemerken schien. Er wirkte abwesend und sprach gedankenverloren weiter.
»In den Frühzeiten der christlichen Kirche kam es nicht selten vor, dass Mönche sich selbst entmannt haben. Die Enthaltsamkeit war immer wieder ein erstrebenswertes Ziel verschiedener religiöser Richtungen, nicht nur der christlichen Kirche. Der sexuelle Trieb ist mit einer der stärkstenTriebe der Menschheit. Ihn zu beherrschen bedeutet, sich in allen Untiefen der Seele zu beherrschen.«
»Koste es, was es wolle«, erwiderte Emma.
Hertl sah sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an und starrte dann wieder hinunter auf den Rhein.
»Die Kirche hat das später verboten. Nur der Kampf gegen die Versuchung erbringe den Verdienst, so die vorherrschende Meinung.«
Überrascht musterte Emma ihn. »Das wusste ich nicht«, erwiderte sie. Der Nieselregen wurde kräftiger. Sie spürte, wie ihr Trenchcoat die Nässe förmlich aufsaugte.
Hertl machte einen fahrigen Eindruck und benetzte immer wieder seine Lippen. Emma fragte sich, ob diese Veränderung nur auf den Alkohol zurückzuführen war.
»Die Sexualität ist der Trieb des Menschen, mit dem die Kirche ihre größten Probleme hat«, fuhr Hertl fort. »Bis heute hat sie es nicht geschafft, einen menschenfreundlichen Umgang mit diesem Thema zu finden. Und wenn man sich die gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahre ansieht, dann wird die Kirche daran untergehen, dass sie diese Seite des Menschen bis heute dämonisiert, verdrängt und verteufelt.«
Seine Stimme klang rau. Der Regen hatte zugenommen. Emma spürte, wie die Nässe durch ihren Mantel drang. Sie schob die feuchten Locken aus ihrer Stirn und warf einen skeptischen Blick zu Hertl, der noch immer keine Notiz vom Regen nahm.
»Aber nicht nur das Christentum hat ein Problem mit der menschlichen Sexualität«, erklärte Hertl weiter. »Alle Weltreligionen tun sich damit schwer. Der Dalai Lama sagte vor kurzem in einem Interview einer Boulevardzeitung, als er auf den Zölibat angesprochen wurde, dass Sex den Menschen gemein mache mit allen anderen Tieren. Er sei ein Mensch,der für gewisse moralische Prinzipien stehe. Der Zölibat sei etwas, das ihn vom gewöhnlichen Tier unterscheide.«
»Das hieße ja, alle Menschen, die nicht zölibatär leben, sieht er auf einer Stufe mit Tieren«, sagte Emma.
Hertl zog fragend die Schultern hoch.
»Sie glauben, dass die Kastration des Mönchs etwas mit Hildegard von Bingen zu tun hatte?«, fragte Emma.
Überrascht kniff Hertl die Augen zusammen und musterte sie. Diese Frage schien ihn in die Gegenwart zurückzuholen.
»Nein«, sagte er und zog fröstelnd die Schultern hoch. »Das glaube ich nicht.«
»Aber er hat sich doch kastrieren lassen, kurz nachdem er die Handschrift gefunden hatte«, beharrte Emma. Eine Windböe peitschte den Regen in ihr Gesicht. Erst jetzt nahm Hertl Notiz von der Nässe. Er strich das nasse Haar nach hinten. Emma setzte sich in Bewegung und blickte zurück zu Hertl, der ihr folgte. Hinter ihm erlosch in einem der Fenster im Gästehaus des Klosters das Licht. Wolken schoben sich vor den Mond, und die Dunkelheit im Klostergarten verstärkte sich.
»Sie werden nass«, bemerkte Hertl überflüssigerweise. »Lassen Sie uns für heute unser Gespräch beenden. Ich erzähle Ihnen morgen mehr darüber. Es wird sie interessieren. Es gibt Dinge, die viel zu lange totgeschwiegen wurden.«
Auf einmal spürte Emma eine Angst, die tief aus ihrem Inneren zu kommen schien. Hektisch blickte sie sich um, doch außer Hertl war niemand zu sehen. Das Brausen des Windes schluckte die Geräusche ihrer Schritte auf dem Kies. Die Zeit schien stillzustehen.
Dann erreichten sie die Straße mit den vertrauenserweckenden Lichtinseln der Straßenlampen. Emma spürte, wie Erleichterung ihren Körper wie eine warme Welle durchströmte.Sie atmete tief durch und blieb unter einer Laterne stehen. Der Regen hatte nachgelassen.
»Was könnte Hildegard von Bingen in ihrer Handschrift geschrieben haben, das wichtig genug wäre, die Handschrift verschwinden zu lassen?«, fragte Emma.
Hertl, der etwas langsamer gefolgt war, blieb ebenfalls stehen.
»Sie hat sich ernsthaft, offen und ehrlich mit der Sexualität des Menschen auseinandergesetzt«, erwiderte er. »Außerdem hält sie sich in ihren naturwissenschaftlichen Schriften mit Urteilen und Wertungen sehr zurück. Das gelingt bis heute kaum einem Mitglied einer christlichen Kirche. Schon deshalb gebührt ihr meine Hochachtung.«
Er
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