Die goldene Königin
betrachtete sie ungerührt. Seine wässrigen grauen Augen lieÃen keinerlei Emotion erkennen. Hätte das Schicksal den Dieb nicht in seinen Stall geführt, um das schöne Pferd seines Gasts zu stehlen, wäre er zweifellos bemühter gewesen, aber die Dinge waren nun einmal, wie sie waren. Er konnte nichts dafür, und man dürfte nicht den Parisern die Verantwortung dafür geben. Momentan blieb ihm nichts anderes übrig, als das junge Ding zu beruhigen.
»Wo finde ich sie?«, fragte Mathilde noch immer mit geröteten Wangen.
Der Mann kratzte sich am Kopf. Diese Kleine war entweder töricht oder verdammt mutig.
»Die stehlen keine Pferde, um sie in Paris zu reiten, denn das gestohlene Pferd würde sie verraten. Häufig versuchen sie damit einen ihrer Leute aus der Conciergerie oder dem Châtelet zu befreien. Manchmal brauchen sie es, um einen Gehängten an der Place de Grève abzunehmen. Auf einem Pferd können sie schneller fliehen. Im Grunde benötigen sie die Pferde nur dazu.«
Mathilde erschauderte. In was für eine schreckliche Lage war sie da wieder geraten? Was konnte sie anderes tun, als sich dorthin zu begeben, wo sie ihr Pferd mit Wahrscheinlichkeit wiederfand? Sie konnte Fildor nicht im Stich lassen und ohne ihn nach Tours zurückkehren. Ohne ihr Pferd konnte sie auch ihre Reise nicht fortsetzen.
»Ihr werdet wohl verstehen, dass ich Euch nicht bezahle«, sagte sie zu dem Wirt. »Und wenn ich mein Pferd nicht wiederfinde, komme ich zurück, um Euch anzuklagen, und dann werde ich in Begleitung der Schwester des Königs sein, der Duchesse dâAlençon. Glaubt mir.«
Sie wusste nicht, ob ihre Worte den Wirt beunruhigt hatten, denn sie machte sogleich auf dem Absatz kehrt und verlieà eilig das Haus.
So begab sie sich also zu Fuà an die Orte, die ihr der Wirt genannt hatte. An der Conciergerie, am Châtelet und sogar beim Rathaus entdeckte sie nichts, das sie zum Bleiben bewog. Sie spürte eine aufgewühlte Atmosphäre, in der ihre Gegenwart falsch verstanden werden konnte. Es fehlte gerade noch, dass man sie festnahm!
SchlieÃlich begab sie sich mit klopfendem Herzen zu jenem schicksalhaften Ort, an dem man schon von Weitem die Kadaver am Galgen schwingen sah. Müde, ängstlich und mit trockener Kehle lieà sie ihren Blick umherschweifen. Die Place de Grève lag vor ihr.
Es war ein widerwärtiger Ort. Als sie den Blick hob, sah Mathilde die aufgereihten Galgen, die davon zeugten, dass hier Recht angewandt worden war â ob gut oder schlecht. Da erst am Abend zuvor Hinrichtungen stattgefunden hatten, hingen noch einige Leichen an den Balken und warteten darauf, dass man sie abnahm oder dass die Raubvögel sich ihrer bemächtigten, die unablässig über dem Platz kreisten und unheilvolle Schreie ausstieÃen.
Mathilde hielt die Luft an. Musste sie an diesem verfluchten Ort warten, der ihr Schauer über die Haut trieb? Ihre Knöchel waren ganz weiÃ, so fest ballte sie die Hände zu Fäusten. Das lebhafte Rot, das bei dem Wirt ihre Wangen gefärbt hatte, war einer aschfahlen Blässe gewichen.
Mit klopfendem Herzen und auf wackeligen Beinen, denn sie fühlte sich noch immer wohler auf dem Rücken ihres Pferdes und vor allem um ein Vielfaches mutiger, fragte sie sich, was sie tun sollte. Sollte sie sich gedulden und in einer sicheren Ecke warten, bis ein Mann auf einem Pferd kam, um einen der Seinen abzunehmen? Es hieÃ, dass man so etwas nur in der Nacht erledigte. Aber diese Individuen, die weder Gott noch Teufel fürchteten, nahmen darauf vermutlich keine Rücksicht, denn Gesetze zählten für sie nicht.
Zum Glück â offenbar kam ihr ein glücklicher Zufall zu Hilfe â sah Mathilde auf einmal, dass ein Mann sie vom anderen Ende des Platzes aus beobachtete. Er musste sich bereits einige Zeit dort aufgehalten haben, denn er rührte sich nicht. Ohne zu wissen, ob das eine gute oder eine schlechte Idee war, ging sie zu ihm.
Angesichts der Umstände war es kein leichtes Unterfangen, sich dem Mann zu nähern. Langsam und mit nach vorn gerichtetem Blick bewegte sie sich um den Platz herum. Ãberqueren wollte sie ihn nicht, denn wenn sie die ganzen Leichen passieren musste, würde sie den Verstand verlieren, und ihren Mut obendrein.
Sie schlängelte sich am Rand des Platzes entlang und drückte sich gegen die umliegenden Häuser, die ihr eine
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