Die Goldenen Regeln des friedvollen Kriegers
überschätzt. Sie kann uns nur bis zu einem gewissen Grad weiterbringen, wie es die Schildkröte dem Hasen in Aesops Fabel beweist. In meinem ersten Jahr als Turntrainer an der University of California in Berkeley bemühte ich mich sehr, eine junge Frau namens Patricia jeden Tag zum Training zu motivieren. Doch obwohl sie begabter war als die meisten anderen Turner, die ich bis dahin erlebt hatte, besaß sie nicht die Ausdauer, um auch nur annähernd das zu leisten, was in ihr steckte. Seitdem achte ich bei meinen Schülern mehr auf Charakter und Arbeitsgewohnheiten als auf überragendes Talent.
Die Menschen, die auf irgendeinem Gebiet Überdurchschnittliches leisten, besitzen meistens eine seltene Kombination aus günstigen Erbanlagen, starker Motivation und anderen Eigenschaften. Doch jeder Mensch kann auf fast jedem Gebiet in irgendeiner Form sehr kompetent werden, und zwar durch bloße Konzentration, Entschlossenheit und Arbeit. Die erfolgreichen Profis auf dem Gebiet der Leichtathletik, der Schauspielerei, des Rechts, der Medizin oder der Wirtschaft, die ich kenne, schreiben ihren Erfolg eher «harter Arbeit» zu als einem «Naturtalent».
Eric, ein früherer Kamerad aus der Universitätsturnmannschaft, hatte eine schwere Kinderlähmung gehabt. Seine Beine waren dünn wie Stöcke. Als er zum erstenmal in die Turnhalle kam und dem Trainer sagte, er wolle an den Ringen üben, konnte er nur auf Krücken gehen. Der Trainer hieß ihn willkommen, aber er hatte seine Zweifel. Wir waren eine der stärksten Mannschaften der gesamten Vereinigten Staaten, und es war sehr unwahrscheinlich, daß Eric sich für die Aufnahme in unser Team qualifizieren konnte. Vier Jahre später machte Eric
bereits ohne Krücken Dauerläufe mit unserer Mannschaft und konnte ohne fremde Hilfe einen über zwei Meter hohen Salto ausführen. Er wurde einer der drei besten Kunstturner der Vereinigten Staaten und trat in die Nationalmannschaft ein.
Ron spielte gern Frisbee; aber abgesehen davon wußte er mit neunundzwanzig Jahren immer noch nicht, womit er seinen Lebensunterhalt verdienen sollte. «Werde doch endlich erwachsen, Ron», ermahnten seine Eltern und Freunde ihn. «Mit Frisbeespielen kann man kein Geld verdienen. » Ron trat auch für den Weltfrieden ein. Eines Tages kam ihm eine Idee. Er fand einen Geldgeber, kaufte ungefähr fünfhundert Frisbeescheiben mit der Aufschrift «Weltfrieden» in englischer und russischer Sprache, reiste in die damalige Sowjetunion und brachte den Menschen dort überall das Frisbeespielen bei (das war während des Kalten Krieges). Inzwischen leitet Ron Frisbee-Reisen nach Rußland und China, und viele lebenslustige, gutherzige Menschen nehmen an diesen Reisen teil. So verdient er sein Geld mit einer Arbeit, die ihm Spaß macht, und dient dabei gleichzeitig auch noch seinen Mitmenschen.
Ich könnte noch Hunderte solcher Geschichten von Leuten, die sich keine Grenzen gesetzt haben, erzählen.
Seine Grenzen erweitern
Heutzutage gibt es viele faszinierende Möglichkeiten, bis an die Grenzen seiner Fähigkeiten zu gehen. Welcher der Weisen des Altertums hätte unsere modernen Initiationsriten vorausgesehen? Welcher Schamane hätte sich träumen lassen, daß einmal eine Zeit kommen würde, in der «ganz normale» Leute aus einer Höhe von dreitausend Metern in den Abgrund springen, und das nur so als Sport? Konnten die Männer, die in Neuguinea von fünfzehn Meter hohen Türmen sprangen und dabei nur von Rankenpflanzen gehalten wurden, voraussehen, daß heutige Männer und Frauen an Gummibändern Hunderte von Metern tief aus Kränen und Heißluftballons springen würden? Ahnten die indischen Fakire und die afrikanischen Stammeskrieger, daß an Wochenendseminaren Tausende von Menschen im Land über glühende Kohlen laufen und am nächsten Workshop Holzbretter mit bloßen Händen zerbrechen lernen würden?
Solche dramatischen Erlebnisse sind sicherlich nicht jedermanns Sache. Der Pfad des friedvollen Kriegers beginnt da, wo wir jetzt im Augenblick stehen, und respektiert die individuellen Bedürfnisse eines jeden Menschen. Manche Menschen kostet es viel mehr Mut, ihre innersten Gefühle zum Ausdruck zu bringen, als mit einem Fallschirm vom Himmel zu springen. Für andere bedeutet es schon einen riesengroßen Schritt zu einem neuen Selbstbild, wenn sie eine Zwanzig-Kilometer-Wanderung machen oder ein Mädchen fragen, ob es mit ihnen ausgehen möchte. Mut, Begabung und Mitgefühl kann man auf viele
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