Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
und kniete vor dem Eingang des Stalls nieder. Ein blonder Junge von neun oder zehn Lenzen hatte sich im Inneren zusammengekauert und zitterte wie Espenlaub. Das schmale Gesicht, aus dem ihr ein dunkles Augenpaar entgegenstarrte, war bleich.
Mein Gott, dachte sie, während sie sich zu einem beruhigenden Lächeln zwang.
»Du musst keine Angst mehr haben, mein Junge.« Ihre Stimme klang sanft. »Sie sind weg. Du kannst herauskommen.«
Als sie eine Hand nach ihm ausstreckte, wimmerte er und hielt die Arme schützend über den Kopf.
»Hab keine Angst!«, wiederholte sie und berührte ihn sachte am Bein. Ihr Herz machte einen schmerzhaften Satz, als er in die hinterste Ecke des Stalls rutschte und die dünnen Beine anzog. »Niemand wird dir etwas tun. Komm.«
Cristin hielt den Atem an, während der Junge zwischen seinen erhobenen Armen hindurchlugte. Leise Hoffnung machte sich in ihr breit, doch mit dem, was nun kam, hatte sie nicht gerechnet. Mit einem Satz sprang der Junge auf sie zu und umklammerte ihre Taille, sodass sie Mühe hatte, wieder aufzustehen.
»Ich bin ja da. Ist schon gut«, flüsterte sie an seinem Ohr und strich ihm über den bebenden Rücken. Ohne darüber nachzudenken, begann sie ein Kinderlied zu summen.
Die beiden Männer warfen ihr Blicke zu, aus denen Bewunderung, aber auch Erleichterung zu lesen waren.
»Nun wird alles gut, du wirst sehen.« Cristin konnte den hämmernden Herzschlag des Jungen an ihrer Brust fühlen, als er sich mit aller Kraft an sie drückte. Er roch nach Staub und Blut. Ihre Gedanken überschlugen sich, während sie ihm einige Strohhalme aus dem Lockenschopf zupfte. Was sollte nun geschehen? Der Kleine machte einen verstörten Eindruck. Hilflos sah sie zu Baldo. »Wo sollen wir hin? Der Junge ist schwach. Ich glaube nicht, dass er einen längeren Marsch aushält.«
Die beiden Männer traten näher.
Piet hielt sie am Arm fest. »Wir müssen fort, Schwester. So schnell die Beine uns tragen, verstehst du?«
Sollte der Junge ihre Sprache verstehen, würden sie mit ihren Äußerungen achtsam sein müssen, um ihn nicht weiter zu verschrecken. Keiner konnte ahnen, ob die Mörder noch einmal zurückkommen würden, um nach überlebenden Zeugen zu suchen. Die beiden sahen einander an.
»Adam, du gehst mit Agnes und dem Jungen und suchst einen Unterschlupf für uns. Ich werde nach weiteren Überlebenden Ausschau halten.«
»Kommt nicht in Frage«, versetzte Baldo. »Ich komme mit dir.«
Piet wies auf dessen verletztes Bein. »Ich bin schneller. Lump nehme ich mit.«
Baldos finstere Miene verriet, was er von dem Vorschlag hielt. Er machte einen Schritt vorwärts und streckte die Arme aus, um Cristin den Jungen abzunehmen. Sie schüttelte den Kopf. »Lass mich das machen.«
»Wie du meinst.« Baldo zuckte die Achseln. »Kommt jetzt, es ist schon spät.«
Cristin verspürte auf einmal den Wunsch, ihn an sich zu drücken, ahnte sie doch, was in ihm vorging. Seit er sie damals am Hafen umarmt hatte, war ihr dieses Gefühl, als sie ihn so nahe bei sich gespürt hatte, nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Sie schaute sich um. Nicht weit vom Dorfrand erstreckte sich ein Wäldchen, das sich dunkel vom Himmel abhob. Cristin sah Baldo fragend an.
»Wir werden uns dort verstecken«, erklärte er.
Piet nickte. »Gut, ich komme dorthin, sobald ich weiß, dass es niemanden mehr gibt, der das hier …« Er brach ab und ging zum nächsten Haus, von dem nur noch die Grundmauern zu sehen waren.
Cristin strich dem Jungen über das Haar. »Komm, wir werden in den Wald dort gehen.«
Sie griff nach seiner Hand und zog ihn mit sich, fort von diesem Ort des Grauens, von dem der Gestank des Todes buchstäblich zum Himmel aufstieg. Hinauf zu einem Gott, der das alles mit angesehen hatte. Wieder einmal fragte sie sich, warum dieser Gott, von dem Bastian Landsberg voller Überzeugung behauptet hatte, er liebe die Menschen, all das Unrecht zuließ, das Menschen – oftmals sogar in seinem Namen – anderen antaten. Sie betraten den Laubwald und bahnten sich einen Weg durch das hüfthohe Gestrüpp. Das Laub der Bäume begann sich zu verfärben, überall schmückten gelbrote Blätter den Waldboden und raschelten unter ihren Schuhen. Cristin liebte den Geruch von Moos und feuchter Erde und musste daran denken, wie Baldo und sie in einen anderen Wald gegangen waren, um sich vor ihren Häschern zu verstecken. Der Wald, in dem das Unglück in Gestalt einer Wildsau über sie hereingebrochen war. Das Tier,
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